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Hugenotten, die Stiefkinder Frankreichs
Ein Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung

.... Festvortrag zum Hugenottenfest Bad Karlshafen, 14. Juli 2001

 

Eckart Birnstiel, Toulouse, Kontakt: eckart.birnstiel@univ-tlse2.fr

 

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Für die deutschen Protestanten ist die Geschichte der Reformation zweifellos eine Erfolgsgeschichte. Vor allem in den nördlichen Teilen Deutschlands ist die evangelisch-lutherische Kirche fest in der christlichen Bevölkerung verwurzelt und hat zur Ausbildung einer eigenständigen Glaubenskultur beigetragen, die seit Jahrhunderten besteht und schon seit langem nicht mehr infrage gestellt wird. Ein deutscher Protestant braucht sich seines Glaubens nicht zu rechtfertigen: er sieht sich auch von den Katholiken, von den Anhängern der Freikirchen und der Sekten, von den Nichtchristen sowie den Atheisten in seiner religiösen Eigenart respektiert, oft sogar in ökumenischem Sinne verstanden.

Für einen französischen Protestanten hingegen ist die Geschichte der Reformation keine Erfolgsgeschichte, sondern das erste Kapitel einer langen Geschichte des Leidens, der Verfolgung, der sozialen, politischen und kulturellen Ausgrenzung. Wer als Protestant in Frankreich lebt, sieht sich einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Und er hat sich ständig mit den Vorurteilen, den Mißverständnissen oder auch nur der schlichten Unwissenheit seiner katholischen und andersgläubigen Mitbürger hinsichtlich seiner eigenen Glaubenskultur auseinander zu setzen. Auch heute noch mag sich ein französischer Protestant zuweilen wie ein Stiefkind Frankreichs fühlen, eines Landes, daß trotz der Trennung von Staat und Kirche und damit der religiösen Neutralität seiner Regierung in Glaubensdingen noch immer stark vom Katholizismus geprägt ist. Bei uns in Frankreich stellen die Katholiken den überwiegenden Anteil der christlichen Bevölkerung: sie repräsentieren etwa 35 Prozent, die Protestanten auf Landesebene noch nicht einmal zwei Prozent. Wohlgemerkt, diese Zahlen beziehen sich auf die praktizierenden, das heißt die regelmäßig am Gottesdienst teilnehmenden Gläubigen. Rechnet man die zwar ursprünglich getauften aber des weiteren nicht praktizierenden Christen beider Konfessionen hinzu, ergeben sich für die Katholiken über 50 Prozent und für die reformierten und lutherischen Protestanten zusammen etwa dreieinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung.

In Frankreich stellen die Protestanten also eine verschwindend geringe Minderheit innerhalb des Glaubensspektrums der christlichen Religion dar, eine quantité négligeable, deren religiöses Leben sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit abspielt. Das wird mir immer wieder vor Augen geführt, wenn ich bei uns in Toulouse an der Universität zu Beginn meiner Lehrveranstaltung zur Geschichte des französischen Protestantismus meine Studenten frage, was sie über die Protestanten wissen. Hierauf bekomme ich manchmal die abenteuerlichsten Antworten: die Protestanten seien keine Christen, höre ich zuweilen, da sie nicht zur Heiligen Jungfrau beteten und die Heiligen insgesamt nicht für heilig hielten; überhaupt würden die Protestanten nichts von dem respektieren, was für einen wahren Christen zum religiösen Leben gehört: die Beichte, die Wallfahrten, das Sakrament der Ehe und der Letzten Ölung, und außerdem bestritten die Protestanten sogar die leibliche Gegenwart Christi im Brot und Wein des Abendmahls und hielten die Taufe nicht für unabdingbar zur Erringung des Seelenheils. Nein, die Protestanten, bekomme ich immer wieder zu hören, seien keine Christen, der Protestantismus sei eine eigenständige Religion.

Wenn ich dann dagegen halte, dass es sich beim evangelisch-lutherischen Glauben, dem reformierten oder calvinistischen Glauben, dem römisch-katholischen Glauben lediglich um verschiedene Konfessionen des Christentums handelt, das außerdem auch noch die griechisch- und russisch-orthodoxen Bekenntnisse sowie eine ganze Reihe eigenständiger Religionsgemeinschaften umschließt, dann gibt es manchmal Widerspruch: «Mais pourquoi a-t-on appelé le protestantisme la "Religion prétendue réformée"?», warum hat man dann den französischen Protestantismus die "vorgeblich reformierte Religion" genannt, wenn es sich doch eigentlich nur um eine der Konfessionen der großen christlichen Glaubensfamilie handelt?

Womit wir bei unserem Thema wären. Es stimmt, der Ausdruck "Religion prétendue réformée", "vorgeblich reformierte Religion", war im Frankreich des Ancien Régime die gängige Bezeichnung für den Protestantismus calvinistischer Konfession. Dieser Ausdruck wird in einem offiziellen Dokument zum ersten mal in den Artikeln des Friedensvertrages von Boulogne verwendet, der im Juli 1573 den vierten der insgesamt acht französischen Religionskriege beendete, dieser Bürgerkriege, die in der deutschen Geschichtsschreibung oft auch als «Hugenottenkriege» bezeichnet werden. Warum wurde den Protestanten also das Recht bestritten, sich Christen nennen zu dürfen? Um das verstehen zu können, müssen wir bis in die Anfangszeit der Reformation zurückgehen, die auch in Frankreich ab etwa 1520 als Reformation im Geiste Martin Luthers begann.

Zu dieser Zeit wurde Frankreich von König Franz I. regiert, einem hochkultivierten Renaissancefürsten, der sich mit den humanistischen Philosophen und Theologen seiner Zeit darin einig war, dass die katholische Kirche eine Reform dringend nötig habe. Wohlgemerkt, eine Reform, die aus den Kreisen der Kirche heraus kommen und in die Kirche hinein zurückwirken sollte. Einen ersten Schritt in diese Richtung hatte Franz I. 1516 getan, als er mit dem Papst Leo X. das Konkordat von Bologna unterzeichnet hatte. Dieses bilaterale Abkommen zwischen der französischen Krone und dem Heiligen Stuhl hatte dem König das Recht verschafft, die hohen Prälaten der Welt- und Ordensgeistlichkeit in Frankreich künftig selbst benennen und über die Zuteilung der Kirchenpfründen weitgehend frei bestimmen zu können. Franz I. sah sich also ab 1516, also noch vor der Verbreitung der Reformation, dazu in der Lage, den einheimischen Hochadel an die Spitze der gallikanischen Kirche zu befördern und ihn sich durch eine gezielte Personalpolitik persönlich zu verpflichten. Schon nach dem ersten Generationswechsel in den oberen Etagen der Bistümern und Abteien befand sich die Direktion der katholischen Kirche Frankreichs in der Hand der großen Adelshäuser, wie der Bourbon, Guise, Châtillon und vieler anderer, die ihren Zugang zu kirchlicher Macht und dem daraus entspringendem Reichtum alle Franz I. persönlich zu verdanken hatten und sich also willig in seinen Dienst stellten.

Dies war der erste Schachzug des Königs, sozusagen die Ouverture seiner Reformpolitik, die er auf dem Gebiet der Justiz, des Steuerwesens, der Wirtschaft, der Provinzial- und der Kommunalverwaltungen immer weiter vorantrieb. Denn Frankreich brauchte dringend Reformen. Während des Hundertjährigen Krieges, der erst 1453 zu Ende gegangen war, hatte das Reich seinen politischen Zusammenhalt verloren, war die Krone zu einem Spielball der feudalen Interessen der mächtigen Territorialfürsten geworden, die ihre Provinzen wie Erbdynasten regierten. Für Franz I. galt es also, die absolute Autorität der Krone wiederherzustellen und einen starken Zentralstaat zu schaffen. Um diese politische Idee erfolgreich umzusetzen zu können, brauchte er allerdings ein landesweites, lückenloses und dicht geknüpftes Kommunikationsnetz. Und nach Lage der Dinge verfügte nur die Kirche über eine derartige Infrastruktur. Die Kirche war über ihre Pfarrer in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Gutsherrschaft, in jeder Festung und sogar auf jedem Schiff der französischen Handels- und Kriegsmarine präsent. Einen besseren Verteiler konnte sich die Regierung gar nicht wünschen.

Franz I. beschloss also sozusagen, die Kirche im Dorf zu lassen, sie aber gleichzeitig zur königlichen Verwaltungsbehörde umzubauen, was auch hervorragend gelang. Die Pfarrer verkündeten also nach der Messe jedes neue Edikt, jede Ordonnanz, jedes Dekret der Krone; die Pfarrer führten in staatlichem Auftrag die Zivilstandsregister, auf deren Grundlage unter anderem Truppenaushebungen und erste Volkszählungen vorgenommen werden konnten; die Pfarrer gingen den königlichen Steuereintreibern bei den Güterschätzungen ihrer Gemeindeglieder zur Hand; und nicht zuletzt waren es auch die Pfarrer, die ihr Kirchenvolk auf den Gehorsam nicht nur gegenüber Gott, sondern vor allem gegenüber dem König verpflichteten, dem Auserwählten Gottes und allerchristlichsten Verteidiger der Kirche und der Religion. Kurzum: ohne die katholische Kirche war im Reiche Franz I. kein Staat zu machen.

Natürlich rief diese enge Verbindung von Staat und Kirche auch Widerspruch hervor. In den Pariser Salons der Humanisten sprach man offen von einer Verweltlichung der Religion, von einer Politisierung der Kirche, und forderte die Rückkehr zu den Quellen des wahren Glaubens. Und in diesen Kreisen, die sich um Didier Érasme, genannt Erasmus von Rotterdam, wie auch um Jacques Lefèvre d’Étaples scharten, diskutierte man seit dem Beginn der 1520er Jahre auch die antiklerikalen und theologischen Denkansätze Martin Luthers, der ebenfalls die weltliche Macht der Kirche geißelte, der die Heilige Schrift zum alleinigen Maßstab des Glaubens erklärte, der letztlich die Lehre von den zwei Reichen, dem göttlichen und dem weltlichen, und die Lehre von den zwei Kirchen, der unsichtbaren und der sichtbaren, vertrat.

Für den König stellte die Verbreitung derartiger Ideen eine enorme Gefahr dar. Nicht dass er etwas gegen die religiöse Lehre Martin Luthers gehabt hätte. Franz I. war ein allem Neuen gegenüber aufgeschlossener Herrscher von solider humanistischer Bildung, der die drei großen Programmschriften Luthers aus dem Jahre 1520, darunter den Traktat «Von der Freiheit eines Christenmenschen», sehr genau gelesen und mit seiner Schwester Marguerite d’Angoulême, der späteren Königin von Navarra, in nächtelangen Religionsgesprächen diskutiert hatte. Die religiösen Ideen der lutherischen Reformation störten ihn nicht im geringsten; im Gegenteil, diese genossen durchaus seine Sympathie. Was ihn jedoch alarmieren musste, war der Angriff der Lutheraner auf den katholischen Klerus und damit auf die institutionelle Vorherrschaft der gallikanischen Kirche, jener Kirche, die in Frankreich zum Garanten der staatlichen Ordnung geworden war. Das konnte der König nicht zulassen. Und er konnte sich selbstverständlich auch nicht gegen den Papst wenden, zumal dieser Martin Luther 1521 exkommuniziert hatte.

Dass sich Franz I. schließlich zur einer radikalen Abwehr des Protestantismus entschloss, ja entschließen musste, hatte aber noch einen anderen Grund. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts befand sich Frankreich in Norditalien im Krieg. Was zunächst als ein punktueller Eroberungsfeldzug begonnen hatte, hatte sich rasch zu einem Krieg gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation entwickelt. In Italien standen sich also Franz I., König von Frankreich, und der Habsburger Karl V., deutscher König und römischer Kaiser, gegenüber. Und jener Karl V. war noch dazu allerkatholischster König von Spanien. Geopolitisch gesehen befand sich Frankreich also in einer äußerst gefährlichen Lage. Hinter seiner Südgrenze, der Pyrenäengrenze, begann das Reich Karls V., und Karl V. herrschte auch auch hinter der Ost- und Nordgrenze, die vom Mittelmeer über Savoyen und Burgund bis hoch ins Elsaß und nach Lothringen und von dort aus bis in die zu jener Zeit spanischen Niederlande verlief. Frankreich befand sich also in der Zange des deutschen Kaisers, und dieser hatte über Martin Luther nur wenige Wochen nach dessen päpstlicher Exkommunikation die Reichsacht verhängt. Hätte sich Franz I. dazu entschlossen, der lutherischen Reformation in Frankreich freien Lauf zu lassen, hätte er nicht nur die Unterstützung der katholischen Kirche verloren und damit das Scheitern seiner Reformpolitik riskiert, sondern er hätte unter den gegebenen Umständen ebenfalls mit einer Großinvasion der kaiserlichen Truppen in seinem eigenen Lande rechnen müssen.

Nein, Franz I. hatte keine andere Wahl: aus innen- wie außenpolitischen Gründen musste er sich der Reformation entgegenstellen. Ab 1523 kam es also zu den ersten Protestantenverfolgungen in Frankreich, unter deren Druck die Verbreitung der lutherischen Reformation tatsächlich im Keime erstickt wurde. Seit der Mitte der 1530er Jahre gab es niemanden mehr im Lande, der sich öffentlich zum Luthertum bekannt hätte; das wäre ein selbstmörderisches Unterfangen gewesen. Wohl aber gab es nach wie vor Abtrünnige der katholischen Kirche. Und diese Dissidenten wandten sich sehr bald an ihren französischen Landsmann Jean Calvin, der gerade begann, sich in Genf einen Namen als Reformator zu machen. So folgte in Frankreich auf die erste, relativ schwache Welle der lutherischen Reformation eine zweite, wesentlich stärkere: diejenige der calvinistischen Reformation, die den französischen Protestantismus bis heute prägt.

Für die Obrigkeit fielen die dogmatischen Unterschiede zwischen der evangelisch-lutherischen und der reformiert-calvinistischen Konfession freilich nicht ins Gewicht. In den Augen der Obrigkeit waren Protestanten Protestanten, und als solche Rebellen gegen Gott und den König. Und so hörten die Religionsverfolgungen auch unter Heinrich II., der seinem Vater Franz I. 1547 auf den Thron gefolgt war, keineswegs auf. Auch Heinrich II. folgte der Staatsräson, als er hunderte seiner reformierten Untertanen auf den Scheiterhaufen schicken ließ. Er hatte hierzu freilich andere Gründe. Um diese zu verstehen, müssen wir wiederum einen Blick über die französischen Grenzen werfen.

Im Reich hatte Karl V. seinen Landesfürsten im Jahre 1519 sehr weitgehende Zugeständnisse machen müssen, um sich seiner Wahl zum deutschen König und römischen Kaiser sicher sein zu können. Während sich in Frankreich die Fürsten der monarchischen Zentralgewalt unterwarfen, hatten die deutschen Fürsten, und vor allem die Kurfürsten unter ihnen, bereits eine weitgehende innenpolitische Unabhängigkeit vom Kaisertum erlangt. Wir haben es hier mit zwei gegenläufigen Bewegungen zu tun: während im Nationalstaat Frankreich die souveräne Staatsgewalt sich immer weiter zentralisierte und verabsolutierte, verlor das föderativ verfasste deutschen Reich allmählich seine vom Kaiser verkörperte Zentralgewalt und verwandelte sich in den uns allen bekannten Flickenteppich aus aberhunderten von manchmal winzigen, aber weitgehend unabhängigen Flächenstaaten, deren Landesherren sich im Zuge der Reformation auch in religiöser und kirchlicher Hinsicht vom katholischen Kaiser absetzten. Auf diese Weise entstanden im deutschen Reich zwei konfessionelle Blöcke: während sich die nord- und mitteldeutschen Fürsten mehrheitlich der lutherischen Reformation anschlossen und somit ihre politische Opposition zum Kaiser bekundeten, verließen die süd- und südwestdeutschen Fürsten weder die katholische Kirche noch den katholischen Habsburger Kaiser Karl V.. 1555 wurde schließlich die konfessionelle Landkarte des deutschen Reiches endgültig festgeschrieben: ein jeder Fürst bekam das Recht, zusammen mit seinen Untertanen zum lutherischen Glauben überzutreten und eine evangelische Landeskirche zu gründen. Das war das Prinzip «cuius regio, eius religio», wörtlich übersetzt «wessen Land, dessen Religion».

Diese Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 sorgten nun in Frankreich für erhebliches Aufsehen, und man begann sich zu fragen, ob eine ähnliche Regelung nicht auch auf das eigene Land übertragbar sei. Warum sollte es nicht möglich sein, dass die calvinistischen Feudalherren auf ihren ausgedehnten Lehensgütern, von denen nicht wenige die deutschen Kleinstaaten an Fläche und Bevölkerung weit übertrafen, ebenfalls die Reformation einführten? Und genau an diesem Punkt begann für den französischen König Heinrich II. die Gefahr: ließe er das zu, dann würde der unter seinem Vater Franz I. begonnene Zentralisationsprozeß der französischen Monarchie abrupt beendet werden und Frankreich wiederum in seine territorialen Einzelteile zerfallen. Das konnte Heinrich II. auf keinen Fall akzeptieren. Die Protestantenverfolgungen mussten also weitergehen, um allen Untertanen der Krone deutlich vor Augen zu führen, daß man in Frankreich keine deutschen Zustände haben wollte.

Allerdings brachte die reine Masse der französischen Calvinisten ein schier unlösbares Problem mit sich. Zu Beginn der 1560er Jahre zählten die reformierten Untergrundkirchen an die zwei Millionen Gläubige. Zwei Millionen, das entsprach etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs. Sollte man diese Kirchendissidenten alle verbrennen? Einsperren? Oder wenigstens aus dem sozialen und beruflichen Leben entfernen? Wie sollte das gehen? Konnte das überhaupt gehen? Das war die alles entscheidende Frage, die sich Katharina von Medici zu Beginn ihrer Regentschaft stellte. Zu diesem Zeitpunkt, ab 1560, befand sich Frankreich in einer hochexplosiven innenpolitischen Situation. Auf der einen Seite standen die ebenso fanatischen wie militanten Katholiken, angeführt von François de Guise, einem mächtigen Feudalherren aus Lothringen; auf der anderen Seite standen die sich von der Krone zurückgesetzt fühlenden Fürsten von königlichem Geblüt, in erster Linie Antoine de Bourbon, Prinzgemahl von Jeanne d’Albret, der Königin von Navarra, der zusammen mit seinem Cousin Louis de Condé und dem Admiral Gaspard de Coligny das reformierte Lager anführte und die religiöse und politische Gleichstellung der Protestanten mit den Katholiken forderte. Und mittendrin stand Katharina von Medici, Witwe Heinrichs II. und Regentin Frankreichs während der Minderjährigkeit Karls IX.. Was sollte sie tun?

Katharina von Medici war nicht nur die Nichte des Papstes Pius IV., vormals Giovanni Angelo di Medici, sondern auch eine tiefgläubige Katholikin. Und trotzdem tat sie etwas, was zu ihrer Zeit einzigartig, unerhört, sensationell war: sie beendete die Protestantenverfolgungen und verordnete die religiöse Toleranz. Wohlgemerkt, sie verlangte nicht von den Katholiken, sich mit der Existenz der Protestanten auf immer und ewig abzufinden; von den Katholiken verlangte sie nur, ruhig zu bleiben und sich in Geduld zu üben, solange die in ihren Augen höchst bedauerliche Glaubensspaltung bestehen bleiben würde. Von den Protestanten verlangte sie im Gegenzug, die Katholiken ihrerseits zu respektieren, so wie ein jüngerer Sohn den älteren zu respektieren habe. Und von beiden erwartete sie, dass sie sich dem gemeinsamen Vater, dem König, bedingungslos unterordneten. Und schließlich gelobte sie feierlich, nichts unversucht zu lassen, um die Einheit der Kirche wieder herzustellen. Ein nobles Projekt, das kaum in jene Zeit passte, so wie Katharina, die in meinen Augen erstaunlichste Person, die jemals an der Spitze des französischen Staates gestanden hat, überhaupt nicht in ihre Zeit passte.

Denn die Zeichen der Zeit standen nicht auf Versöhnung und Verständigung; sie waren auf Fanatismus und Verfolgung ausgerichtet. Nur wenige Wochen nach dem Toleranzedikt von Katharina begann am 1. März 1562 mit dem Blutbad von Wassy das größte Bürgerkriegsgemetzel, das Frankreich bisher erlebt hatte. Katholiken und Protestanten griffen zu den Waffen und teilten das Land unter sich auf: die Katholiken hatten ihre Machtbasis im Norden, die Protestanten im Süden, und in der Mitte tobte der Krieg. Und in der Mitte stand wiederum Katharina von Medici, die hilflos mit ansehen musste, wie die Einheit ihres Staates zerfiel, wie Regierung und Verwaltung zerstört wurden, wie ein jeder nach seinem Gutdünken Steuern auf eigene Rechnung eintrieb, wie die Fürsten auf eigene Faust Allianzen mit ausländischen Mächten abschlossen, die Katholiken mit Spanien, die Protestanten mit England sowie mit den niederländischen Generalstaaten und den norddeutschen evangelischen Fürsten, was die Gefahr eines gesamteuropäischen Krieges heraufbeschwor.

Und trotzdem wankte Katharina nicht. Sobald sie den Eindruck hatte, dass die gegnerischen Truppen ausgeblutet und kriegsmüde waren, bot sie jedes Mal einen Friedensvertrag an. Und jedes Mal räumte sie den Protestanten mehr Rechte ein, was allerdings auch jedes Mal den Bürgerkrieg wieder neu entfachte. 1563 erhielten die Protestanten neben ihrer bereits verbrieften Glaubensfreiheit auch noch das Recht, ihre Gottesdienste frei und unbehindert abhalten zu können, was 1568 noch einmal bestätigt und erweitert wurde. Und 1570, am Ende des 3. Religionskrieges, bekamen die Protestanten auch den freien Zugang zu allen Berufen, Ämtern und Würden sowie vier Sicherheitsplätze, also rein protestantische Orte, die von einem protestantischen Gouverneur regiert und von protestantischen Truppen beschützt wurden.

Um ihr Friedenswerk zu vollenden und Katholiken wie Protestanten im Geiste religiöser Toleranz wieder zusammenzuführen, sprang Katharina sogar über ihren schwärzesten Schatten und bat für ihre Tochter Marguerite, genannt Margot, um die Hand von Heinrich, dem Sohn und Thronerben von Jeanne d’Albret, der protestantischen Königin von Navarra, ihrer Todfeindin. Als Krönung der nationalen Versöhnung sollten sich die beiden Königskinder über alle religiösen und politischen Zwistigkeiten hinweg die Hand reichen. Doch diese Hochzeit war für den katholischen Hochadel eine unerträgliche Provokation. Während der Feierlichkeiten wurde zunächst ein hinterhältiges Attentat auf den protestantischen Admiral Coligny verübt, und einige Tage später kam es zu einem allgemeinen Massaker in Paris und danach im ganzen Lande. Während der Bartholomäuspogrome, die im Morgengrauen des 24. August 1572 begannen und erst gegen Ende des darauf folgenden Oktobers abklangen, wurden in der Hauptstadt über zweitausend, in der Provinz zwischen fünf- und zehntausend Protestanten niedergemetzelt. Von ihren Führern kamen lediglich Heinrich von Navarra und sein Cousin Henri de Condé mit dem Leben davon, freilich um den Preis, sich zum Katholizismus zu bekehren und sich als Gefangene des Hofes zu betrachten. So wurde die Friedenspolitik von Katharina von Medici in einer Woge von Blut davongespült, und mit ihr die Hoffnung auf religiösen Ausgleich und dauerhaften zivilen Frieden.

Denn spätestens seit den Bartholomäuspogromen war allen politischen Akteuren und Beobachtern klar, dass die Verfasstheit des französischen Staates niemals eine friedliche Koexistenz beider Konfessionen erlauben würde. Um das zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass die französische Monarchie auf dem Prinzip des Gottesgnadentums fußte und daher auf einer konservativen und metaphysischen Grundlage errichtet war. Den König verstand man nach dieser Staatstheorie nicht nur als den Auserwählten Gottes, sondern auch als den ältesten Sohn der römischen Kirche und Verteidiger des «wahren», also des katholischen Glaubens. Bis zum Beginn der Reformation hatte die realpolitische Umsetzung dieses Prinzips niemals Schwierigkeiten bereitet: Politik und Religion waren stets die beiden Seiten ein und der selben Medaille gewesen. Mit der reformatorischen Glaubensspaltung hatte sich die Situation jedoch grundlegend geändert. Sicher, auch die Protestanten erkannten die göttliche Auserwähltheit des Königs rückhaltlos an, da auch für sie alle Obrigkeit von Gott eingesetzt war; sowohl Luther als auch Calvin haben an diesem Punkt niemals den geringsten Zweifel gelassen. Die andere Eigenschaft des Königs, die des Verteidigers der römischen Kirche und des katholischen Glaubens, kollidierte in den Augen der Protestanten jedoch mit einem der tradierten Grundgesetze der französischen Monarchie, welches im Kern besagte, dass die vornehmste Pflicht der obersten Staatsgewalt im Schutze des Friedens und des Wohlstandes des Staatsvolkes läge. Wendete sich der Souverän also gegen das eigene Volk oder ließ er es zu, dass Teile seines Volkes gegenüber anderen benachteiligt würden, so verriet er das Gesetz, nach dem er angetreten und auf das er verpflichtet war.

Das war genau das Problem, das sich in Frankreich nach den Bartholomäuspogromen stellte: für die Protestanten war der König ein Tyrann, dem man keine Gefolgschaft mehr schuldete, da er es zugelassen, möglicherweise sogar angeordnet hatte, dass Abertausende seiner Untertanen im eigenen Lande getötet worden waren. Für die Katholiken war der König ein Verräter gegenüber Kirche und Religion, da er den Protestantismus nach wie vor in seinem Lande duldete, eine Glaubensrichtung, die sie sich beeilten, die «vorgeblich reformierte Religion» zu nennen und somit als Ketzerbewegung aus dem Christentum auszugrenzen. Zwischen beiden Positionen konnte es keinen Kompromiss geben: die ehemalige Interessengleichheit von Politik und Religion war auch durch religiöse Toleranz nicht wieder herzustellen. Der Kampf musste also weitergehen, bis zur Endlösung der Protestantenfrage.

Auch die Krone selbst sah sich vor einem unlösbaren Problem: beharrte sie auf dem Prinzip des Gottesgnadentums und der Bindung an die römische Kirche, geriet sie in Widerspruch zu den Grundgesetzen der französischen Monarchie; respektierte sie diese, musste sie sich logischerweise zu konfessionellem Pluralismus und religiöser Multikulturalität bekennen, mit anderen Worten, darauf verzichten, die von der römischen Kirche als Ketzer bezeichneten Kirchenabtrünnigen zu verfolgen. Beides ging nicht zusammen, man mochte es drehen und wenden wie man wollte. Die französische Monarchie konnte niemanden aus den Bindungen an die katholische Kirche entlassen, sie konnte keine Trennung von Staat und Kirche vornehmen. Der Katholizismus war ihr Grundprinzip: rührte man daran, und genau das war geschehen, so geriet das gesamte Staatsgebäude ins Wanken, wenn nicht sogar in freien Fall.

Und so versank Frankreich nach den Bartholomäuspogromen von 1572 in Chaos und Anarchie. Der immer brutaler geführte Bürgerkrieg sollte noch bis in die ersten Jahre der Regierung Heinrichs, König von Navarra und seit 1589 auch König Heinrich IV. von Frankreich, andauern. Um diesen Konflikt zu beenden, sah sich Heinrich, der inzwischen zum Protestantismus rekonvertiert war, gezwungen, dem reformierten Glauben erneut abzuschwören - man erinnere sich an seine von der Realpolitik diktierte Bemerkung «Paris ist eine Messe wert» - und endgültig in den Schoß der katholischen, apostolischen und römischen Kirche zurückzukehren: ein protestantischer König war auf dem französischen Thron nicht durchzusetzen.

Mit seinem Übertritt zum Katholizismus war das seit den Tagen Katharinas leidvolle Dilemma jedoch noch nicht gelöst: wie sollte sich Heinrich, auch er wie alle seine Vorgänger König von Gottes Gnaden, ältester Sohn der römischen Kirche und Verteidiger des katholischen Glaubens, gegenüber seinen ehemaligen Kampf- und Glaubensgenossen, den Protestanten, verhalten? Konnte er, durfte er sie weiter tolerieren? Heinrichs Antwort war klar und ist in seinem 1598 erlassenen Edikt von Nantes enthalten: ja, die Protestanten sollten weiterhin in Frankreich wohnen und ihren üblichen Verrichtungen nachgehen dürfen; ja, sie sollten auch in gewissen Grenzen ihren Gottesdienst abhalten können. Ihre Gegenwart wurde also toleriert, wenn auch nur auf Zeit: denn das Edikt von Nantes, das von dem Kirchenhistoriker Émile Guillaume Léonard treffend als der «Sargdeckel des französischen Protestantismus» beschrieben worden ist, erklärte die katholische Kirche zur Staatskirche und setzte sie wieder in alle Rechte ein, die sie vor Ausbruch der Religionskriege genossen hatte. Die Gegenwart der Protestanten wird hingegen als ein vorübergehendes Übel hingenommen. Im Edikt von Nantes ist zu lesen:

[...] jetzt, wo es Gott gefällt, Uns etwas [...] Ruhe genießen zu lassen, haben wir geglaubt, diese nicht besser anwenden zu können, als indem Wir Uns ganz dem widmen, was den Ruhm seines heiligen Namens und Dienstes betrifft, und dafür sorgen, dass er von allen Unseren Untertanen verehrt und angebetet werde. Wenn es ihm nicht gefallen hat, zu erlauben, dass das für jetzt in einer und derselben Form der Religion geschehe, so sei es doch wenigstens in derselben Absicht und mit solcher Ordnung, dass aus diesem Grunde keinerlei Verwirrung oder Unruhe zwischen ihnen erwachse, und dass wir und dieses Königreich immer des glorreichen Beiwortes «Allerchristlichst» würdig bleiben und dasselbe bewahren mögen, das durch so viele Verdienste und seit so langer Zeit erworben ist: und auf diese Art die Ursache des Leidens und der Unruhe entfernen, die inbezug auf die Religion entstehen können, welche immer am leichtesten und im weitesten Umfange die Gemüter entflammt.

Heinrich selbst ließ also am provisorischen Charakter des Edikts von Nantes keinen Zweifel. Indem er die Protestanten dem Schutz der allerchristlichsten französischen Monarchie unterstellte, drückte er offen seinen Wunsch aus, sie in den Schoß der katholischen Kirche zurück zu führen. Wie auch schon vor ihm Katharina von Medici verlangte er von der katholischen Mehrheit seiner Untertanen nicht, sich endgültig mit der konfessionellen Spaltung der Gesellschaft abzufinden. Er bekräftigte vielmehr seine Absicht, die religiöse Einheit Frankreichs unter der Hoheit der katholischen Kirche möglichst schnell wieder herzustellen. Die stabilisierende Kraft seiner Herrschaft lag für ihn also nicht in der konfessionellen Öffnung der Gesellschaft, sondern in der Beseitigung konfessioneller Konfliktherde im Bereich der Politik. Heinrich folgte, wie alle seine Vorgänger seit Franz I., der Staatsräson, und diese schrieb ihm den künftig einzuschlagenden Weg vor: den schrittweisen Abbau der protestantischen Sonderprivilegien bei gleichzeitiger Wiedereingliederung der Protestanten in die katholische Gesellschaft und Kirche. Das Edikt von Nantes, 1598, markiert also den Beginn der Gegenreformation in Frankreich.

Heinrichs Nachfolger und deren Regierungschefs, Ludwig XIII. und Richelieu, Mazarin und Ludwig XIV., folgten der einmal vorgegebenen Linie: ab 1620 wurde der Béarn, das seit den Zeiten der Reformation protestantische Kernland der Krone von Navarra, radikal rekatholisiert. 1628 fiel die protestantische Hochburg La Rochelle nach monatelanger Belagerung und einigen gescheiterten Interventionen der mit ihr verbündeten Engländer in die Hand der königlichen Truppen, die danach auch in Montauban, Montpellier und Nîmes, den Hauptstädten des protestantischen Südens, einmarschierten. Im Jahr darauf, 1629, strich Richelieu sämtliche politischen und militärischen Privilegien der Protestanten und ließ ihnen lediglich ihre Glaubensfreiheit und, in zunehmend beschränktem Maße, ihre Kultfreiheit. Unter Ludwig XIV. kam es dann ab 1662 zu den ersten Berufsverboten für Protestanten, die fortan nicht mehr Arzt, Apotheker oder Hebamme werden durften, nicht mehr Lehrer, Schreiber oder Buchdrucker, Notar oder Gerichtsvollzieher, Richter oder Rechtsanwalt. Gleichzeitig erging die königliche Order, keine Protestanten mehr in die Kommunalverwaltungen zu wählen oder in die Handwerkszünfte und Gilden aufzunehmen, sie aus allen Funktionen des Steuerwesens zu entfernen, wie sie auch bald darauf aus den Offizierkorps der Armee und der Marine entfernt wurden. Und der Druck wurde immer stärker: wer sich nicht zum Katholizismus bekehren ließ, dem wurde langsam aber sicher jegliche Existenzgrundlage entzogen. Und wer sich auch dann noch nicht freiwillig bekehrte, der wurde ab 1681 unter massiven physischen Druck gesetzt: auf Befehl Ludwigs XIV. besetzten Dragonerregimenter die Häuser der Protestanten, zunächst in den Cevennen und im Süden des Landes, später in ganz Frankreich, und zwangen sie auf mitunter geradezu bestialische Weise, ihrem Glauben abzuschwören. In der Tat war es den Dragonern lediglich verboten, ihre Quartiersleute zu töten, da sich Tote nicht mehr bekehren lassen ; alles andere war ihnen jedoch erlaubt, und ich überlasse es ihrer Phantasie, sich die Szenen auszumalen, die sich während dieser Dragonnaden abspielten. Wie auch immer, zu dieser Zeit, in den 1680er Jahre, begann der große Exodus der Hugenotten, die sich dann im Refuge, unter anderem hier im alten Kernland von Hessen-Kassel, neu zu Gemeinden organisierten.

Im Oktober 1685 sah Ludwig XIV. endlich den Moment gekommen, das Edikt von Nantes, das sein Großvater Heinrich IV. 1598 erlassen hatte, kraft eines neuen Ediktes zu widerrufen. In der Präambel dieses Revokationsediktes, des Edikts von Fontainebleau, ist zu lesen:

Der König Heinrich der Große, Unser Großvater glorreichen Andenkens, von dem Wunsche geleitet, zu verhindern, dass der Friede, den er seinen Untertanen nach den großen, während [...] der inneren und äußeren Kriege von ihnen erlittenen Verluste wieder verschafft hatte, aus Anlass der vorgeblichen reformierten Religion gestört würde [...], wollte durch sein zu Nantes im Monat April 1598 gegebenes Edikt das Verhalten regeln, welches gegen die von der besagten Religion beobachtet werden sollte, die Orte bestimmen, in denen sie dieselbe ausüben können, außerordentliche Richter einsetzen, um ihnen Recht zu sprechen, und endlich sogar durch besondere Artikel für alles das sorgen, was er für nötig hielt, um die Ruhe in seinem Königreiche zu erhalten [...], damit er besser im Stande wäre, seinem festen Vorsatz gemäß, an der Wiedervereinigung derer mit der Kirche zu arbeiten, die sich so leichtfertig von ihr entfernt hatten [...]. Jetzt endlich hat Gott in seiner Gnade gefügt, dass [...] Wir die Absicht [...] Unseres besagten Großvaters [...] zum guten Ende führen können. So sehen Wir nun jetzt mit dem gerechten Danke, den wir Gott schuldig sind, dass Unsere Sorgen das vorgesteckte Ziel erreicht haben, da ja der bessere und größere Teil Unserer Untertanen von der besagten vorgeblichen reformierten Religion die katholische angenommen hat. Weil denn nun dieserhalb die Ausführung des Edikts von Nantes und alles dessen, was zugunsten der besagten vorgeblichen reformierten Religion angeordnet worden ist, den Nutzen verloren hat, so haben wir geurteilt, dass wir nichts Besseres tun könnten, um die Erinnerung an die Unruhen, die Verwirrung und die Leiden, welche der Fortschritt dieser falschen Religion in Unserem Königreiche verursacht hat [...], vollständig auszulöschen, als das besagte Edikt von Nantes und die besonderen Artikel, die im Anschluss an dasselbe bewilligt worden sind, und alles, was noch nachher zugunsten der besagten Religion geschehen ist, vollständig aufzuheben.

Ludwig XIV. präsentiert sich hier also als Vollstrecker des politischen Willens Heinrichs IV., und er tut das nicht zu Unrecht. Für Ludwig, wie auch für seine Vorgänger seit Franz I., war der starke, zentralistisch und absolutistisch regierte Staat der beste Garant für Frieden und Wohlstand. Sein Ausspruch «L’État, c’est moi», «Ich bin der Staat», ist in diesem Sinne bezeichnend. Er besagt: in meinem Staat geht alles nach meinem Willen, geht nichts gegen meinen Willen; wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer gegen mich ist, hat sein Daseinsrecht in meinem Staat verloren; ich bin Katholik, also können meine Untertanen nichts anderes als Katholiken sein; l’État, c’est moi. Auf religiöser Ebene trägt der monarchische Absolutismus Ludwigs XIV. also durchaus totalitäre Züge.

Für die wenigen bekennenden Protestanten, die selbst nach dem offiziellen Widerruf des Edikts von Nantes in Frankreich geblieben waren, brach eine neue Leidenszeit an. Nach der blutigen Unterdrückung des Kamisardenaufstandes in den Cevennen zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden sie immer weiter eingekreist, ihre Kinder wurden verschleppt, die Männer auf die Galeeren geschickt, von denen kaum jemand wieder zurückkam, die Frauen ins Kloster gesteckt oder in einem jener berüchtigten Gefängnisse wie der Tour de Constance in Aigues-Mortes im Rhône-Delta eingekerkert. Die Tour de Constance hat übrigens im kollektiven Gedächtnis der französischen Protestanten ihren festen Platz: hier hat Marie Durand während ihrer siebenunddreißigjährigen Gefangenschaft die Inschrift «resister», «widerstehen», mit den Fingernägeln in den Steinfußboden ihrer Zelle gekratzt. Widerstand zu leisten, seinen Glauben allen Pressionen zum trotz nicht preiszugeben, sein Seelenheil als ein höheres Gut zu betrachten als es weltliches Wohlergehen sein kann, das ist während des gesamten 18. Jahrhunderts das Leitmotiv des französischen Protestantismus gewesen, und diesem unbeugsamen Geist des Widerstandes ist es schließlich zu danken, dass die Reformierten während der Großen Revolution von 1789 aus dem Schatten des Ancien Régime hervortreten und für eine religiöse Kontinuität sorgen konnten, die auch in unseren Tagen noch zu spüren ist.

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Meine Damen und Herren, sie mögen verstanden haben, weshalb ich in der Ankündigung meines Vortrags die Hugenotten die «Stiefkinder Frankreichs» genannt habe. Ich habe das nicht nur deshalb getan, um sie von den Hugenotten des Refuge abzugrenzen, die bekanntlich, vor allem in Brandenburg-Preußen und in Hessen-Kassel, als die Adoptivkinder ihrer neuen Landesherren galten und deren Geschichte von da ab eine andere, positive Wendung nahm. «Stiefkinder Frankreichs», diese Bezeichnung trifft glaube ich am besten auf ihre Lage während der dreihundert Jahre zu, die das Zeitalter der Reformation von demjenigen der französischen Revolution trennen. Wenn sie auch zeitweilig, vor allem während der letzten zehn Jahre der Regierung Heinrichs IV., in ihrer eigenen Heimat mehr oder weniger geduldet wurden, so sahen sie sich doch niemals mit den Katholiken gleichgestellt. Für den König, um wen es sich auch immer im Einzelfall gehandelt haben mag, waren es zwar seine natürlichen, aber eben nicht seine legitimen und schon gar nicht seine geliebten Kinder, Stiefkinder eben, die man unter dem gemeinsamen Dach duldete, bis sich eine passende Gelegenheit fand, sie aus dem Hause zu weisen.

Dieses Los, von der katholischen Obrigkeit und Mehrheitsgesellschaft bestenfalls mit Vorurteilen und Unverständnis betrachtet zu werden, schlimmstenfalls aber für ihre Glaubensstärke die gesellschaftliche Existenz, wenn nicht gar das Leben aufs Spiel zu setzen, hat das geschichtliche und kulturelle Selbstverständnis der Protestanten Frankreichs seit jeher geprägt und prägt es auch heute noch.

Sich in Frankreich zum reformierten Glauben zu bekennen, heißt, anders zu sein als der typische Franzose, heißt gegen den Strom einer Mehrheitskultur zu schwimmen, heißt, sich für sein Anderssein ständig rechtfertigen zu müssen, sich unter einem permanenten Erklärungsdruck zu befinden. Die französischen Protestanten können sich nicht anders als eine Minderheit begreifen, als eine Minderheit, die sich indessen selbst als Elite betrachtet, was im übrigen so falsch nicht ist, da die Protestanten auf der Führungsebene von Politik und Wirtschaft überproportional vertreten sind. Zu einer Minderheit zu gehören, wie die Protestanten, heißt, sich kritisch mit den sozialen und kulturellen Werten der Mehrheit auseinander zu setzen, Argumente zu entwickeln, sich abzugrenzen, anders gesagt, die Funktionsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft besser zu begreifen als diese selbst es tut. Und da die Mehrheit der Minderheit oft mit Missachtung, sogar mit Misstrauen begegnet, müssen diejenigen, die sich ausgegrenzt fühlen, auf ihrem Weg zu sozialer Anerkennung flexibler, arbeitsamer, in der Verfolgung ihrer Lebensziele auch beharrlicher sein, was sie letzten Ende insgesamt auch erfolgreicher werden lässt. Ohne hier die These Max Webers vom Zusammenwirken der protestantischen Ethik und des kapitalistischen Geistes überstrapazieren zu wollen, lässt sich doch nicht leugnen, dass die Protestanten dort, wo sie nicht die Mehrheit stellen, quasi zur Modernität verdammt sind. Die Mehrheit kann es sich leisten, das Bestehende bewahren zu wollen; die Minderheit dagegen kann kein Interesse daran haben, Zustände zu erhalten, die ihren minoritären Status festschreiben.

In Frankreich Protestant zu sein, heißt also, sich auf eine eigene, unverwechselbare Geschichte zu berufen, eine Geschichte, die mit Blut, Schweiß und Tränen geschrieben wurde, die aber in der Rückschau auch Anlass zu Stolz gibt. Das «resister» von Marie Durand, die Idee des Widerstandes gegen staatliche Willkür, gegen religiöse Intoleranz, gegen Verfolgung und Unterdrückung, lässt die französischen Protestanten, deutlich stärker als die katholische Mehrheit, seit jeher Solidarität mit den Schwachen und den Ausgestoßenen der Gesellschaft nicht nur empfinden, sondern auch im Alltag praktizieren.

Erlauben Sie mir, Ihnen einige Passagen eines offenen Briefes zu zitieren, die der damalige Präsident der Nationalsynode der Reformierten Kirchen Frankreichs an den Großrabbiner der jüdischen Gemeinden seines Landes richtete. Dieses Schreiben trägt das Datum des 26. März 1941 und wurde also während der Zeit der Okkupation, also der deutschen Besatzung Frankreichs, veröffentlicht. Der Verfasser ist der Pastor Marc Boegner, der sich mit diesem Brief in Lebensgefahr begab:

Herr Großrabbiner. Der Nationalrat der Reformierten Kirche Frankreichs [...] hat mich dazu beauftragt, Ihnen gegenüber den Schmerz auszudrücken, den wir alle angesichts der rassistischen Gesetzgebung empfinden, die in unserem Lande eingeführt worden ist und die für die französischen Israeliten großes Unrecht nach sich zieht.

Selbst jene unter uns, die der Ansicht sind, dass dem Staat aus der massiven Einwanderung einer großen Zahl von Ausländern, seien sie Juden oder auch nicht, schwere Probleme erwachsen [...], haben sich immer offen dafür ausgesprochen, dass die Lösung dieser Frage nur auf dem Boden des Respekts vor der menschlichen Person, der Treue zum Staat und des Vertrauens in die Rechtmäßigkeit seiner Gesetze erfolgen darf [...]. Wir sind daher zutiefst erschüttert über die rücksichtslose Durchsetzung eines Gesetzes, das, da es auf die Israeliten in ihrer Gesamtheit gemünzt ist, keinen Unterschied mehr macht zwischen den französischen Israeliten, die seit langen Generationen und oft schon seit Jahrhunderten unsere Mitbürger sind, und jenen, die erst kürzlich die französische Staatsbürgerschaft erhalten haben.

Unsere Kirche, die in ihrer Geschichte mannigfache Entbehrungen und Verfolgungen erdulden musste, empfindet tiefes Mitleid mit Ihren Gemeinden, deren Kultfreiheit vielerorts bedroht ist und deren Gläubige sich jählings ins Unglück gestoßen sehen [...].

Zwischen Ihren Gemeinden und den Kirchen der Reformation besteht ein Band, dass Menschenkraft nicht zerreißen kann: die Bibel der Patriarchen, der Propheten und der Psalmisten, das Alte Testament, das Jesus von Nazareth die Kraft seiner Seele und die Klarheit seiner Lehre verlieh, und das zu allen Zeiten für die Christen das Wort Gottes ist. Unsere Kirche lebt in der Meditation dieser Heiligen Bücher, die Gott uns geschenkt hat, und wir wissen, dass Gott seinen Schutz in diesen schlimmen Zeiten auch und vor allem den französischen Israeliten gewährt, denen so grausam mitgespielt wird.

Herr Großrabbiner, seien Sie sich unseres aufrichtigen Mitleidens sicher.

Marc Boegner, im Namen der Protestanten Frankreichs.

Aus diesen Zeilen spricht der Geist des französischen Protestantismus in seiner eigenen, unverwechselbaren Sprache, der Sprache des Widerstandes gegen staatliche Willkür und der Solidarität mit den Entrechteten der Gesellschaft. Und es ist vielleicht nicht ohne Interesse, diese aufrechte Geisteshaltung mit derjenigen der zur selben Zeit, also während des III. Reiches, in Deutschland lebenden Nachkommen der hugenottischen Réfugiés zu vergleichen. Unter den deutschen Hugenotten erhob sich keinerlei Stimme gegen die Nazidiktatur. Wie Ursula Fuhrich-Grubert in ihrer bemerkenswerten Arbeit Die Hugenotten unter dem Hakenkreuz, die die Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin während der Jahre 1933 bis 1945 behandelt, überzeugend nachgewiesen hat, boten sich die deutschen Hugenotten als willige Helfershelfer des Nazirégimes an. Ursula Fuhrich-Grubert führt dazu aus:

Während [...] die Bekennende Kirche seit 1935, aber zunehmend seit 1938, öffentlich auf die Diskriminierung der Juden hinwies und sich zum Teil auch der Verfolgten annahm, ging die Französische Kirche den umgekehrten Weg. Die verstärkte Verfolgung der jüdischen Minderheit durch den NS-Staat rief bei ihr nicht den Wunsch hervor, diesen Menschen zu helfen. Sie bewirkte vielmehr eine von obrigkeitsstaatlichem Denken geleitete Reaktion, die darin gipfelte, dass die Gemeindeleitung staatliche Maßnahmen in vorauseilendem Gehorsam auf die Kirche übertrug.

Dass die französischen und die deutschen Hugenotten schon immer getrennte Wege gingen und auch heute noch gehen, ist mir anlässlich einer unverhofften Begegnung vor Augen geführt worden, die ich Ihnen abschließend schildern möchte. Vor einiger Zeit habe ich mich mit einem alten Weinbauern aus Castres, einer Kleinstadt unweit von Toulouse, unterhalten. Im Verlaufe des Gesprächs, als er hörte, ich interessiere mich für die Geschichte der Protestanten Frankreichs, gab er sich mir als solcher zu erkennen und erzählte, er habe sich als Junge, wie es für einen Protestanten selbstverständlich war, der Résistance angeschlossen, also der gegen die deutsche Besatzung gerichteten Widerstandsbewegung. Eines Tages sei er in die Kommandantur von Castres vorgeladen und dort wegen irgendeiner Aktion der Résistance, mit der er allerdings, wie er sagte, ausnahmsweise nichts zu tun hatte, von einem jungen Leutnant der Wehrmacht verhört worden, der nicht nur bemerkenswert gut französisch sprach, sondern sich auch mit einem französischen Familiennamen vorstellte. Er war nach eigenen Bekunden ein deutscher Nachkomme hugenottischer Réfugiés, die sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Berlin niedergelassen hätten; er sei im Französischen Dom zu Berlin getauft worden und habe das Französische Gymnasium in Berlin, eine von Hugenotten gegründete Lehranstalt, bis zum Abitur besucht. «Wie», habe da mein Franzose ausgerufen, «und mit einer solchen Geschichte können Sie die Uniform der Wehrmacht tragen?» - «Diese Geschichte, mein Junge», habe der Offizier freundlich aber bestimmt geantwortet, «verpflichtet mich dazu, mich voll und ganz in den Dienst des Landes zu stellen, das meine seinerzeit in Frankreich verfolgten Vorfahren bei sich aufgenommen hat».

Man schied in gegenseitigem Unverständnis: mein französischer Protestant begriff nicht, und er begreift es auch heute noch nicht, wie sich ein Protestant auf die Seite der Unterdrücker stellen konnte; der deutsche Hugenotte konnte nicht begreifen, wieso es ehrenrührig sein sollte, seiner Regierung vorbehaltlos zu dienen. Der eine hatte sich eben immer nur als verstoßenes Stiefkind Frankreichs erlebt, der andere als stolzes Adoptivkind Deutschlands.

 

 

  Was heißt reformiert ?

Eberhard Busch

 

 Calvin und die Einheit der Kirche

Eva-Maria Faber

 

  Der Hugenottenpsalter 

Lilli Wieruszowski

 

      

 

   

 

 

 

   

 

Stand: 19. Februar 2020

 

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