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Im Himmel wie auf Erden –

Glaubensvermittlung als evangelische Kirche im Sozialismus

.... der Geist weht, wo er will

 

Hans-Ulrich Schulz *

 

Vortrag im Rahmen der Tagung „Religiöser und kirchlicher Wandel zwischen Elbe und Oder“ am 13. Dezember 2005 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen-Geschichte

 

Die Kirche, über die wir heute reden, ist die Kirche, in der ich glauben gelernt habe. Frühe religiöse Erfahrungen, Bildungs- und Gemeinschaftserlebnisse in der Jungen Gemeinde waren so prägend, dass ich unmöglich von „dieser“ Kirche (im Sozialismus) reden kann. Es ist vor allem „meine“ Kirche, in der ich glauben gelernt habe. Die Zeit, über die wir heute reden, umfasst meine Kindheit und Jugend, die Sturm- und Drangzeit des Studiums und der ersten Berufsjahre als Dorfpfarrer und Kreisjugendpfarrer und reicht weit hinein in die so genannten besten Mannesjahre. Der Ort, über den wir heute reden – zwischen Elbe und Oder – ist meine Heimat, besonders wenn man sich die Havel zwischen Elbe und Oder dazu vorstellt. Ich werde deshalb nicht gleich sagen: right or wrong: meine Kirche, meine Zeit, mein Land. Ich bitte aber um ein bisschen Nachsicht bei Nostalgiegefahr.

 

1. Im Pfarrhaus brennt noch Licht.

Wenn Bürgermeister Schobert hinreichend bezecht und also mutig war, was gar nicht selten vorkam, hielt er auf seinem Heimweg gern noch mal Einkehr im Pfarrhaus. Da brannte noch Licht. Fritz war ein gestählter Kommunist aus einer vielköpfigen pommerschen Landarbeiterfamilie. Die Bauern in meinem properen Prignitz-Dorf haben ihn einerseits ganz gut leiden können, weil er mal ein Auge zugedrückt hat beim Schwarzschlachten und weil er für die Wurstpakete nicht ganz unanfällig war. Andererseits haben sie ihn nicht für voll genommen: „Ach, der Fritz ... soll ja im KZ gewesen sein. - Aber so schlimm, wie es heute gern gemacht wird, kann es ja wohl nicht gewesen sein - Ach was, der hat doch als Küchenbulle gelebt wie die Made im Speck.“ Also, Fritz kam immer mal wieder rein, um mir seine Bekehrungsgeschichte zu erzählen: Er hat an einem Heiligen Abend zu seinem rechten Glauben gefunden, als er zusammen mit seinen acht Geschwistern einen selbst gestrickten Schal aus der Hand der fürsorglichen Gräfin entgegen nehmen musste. Man hatte ihm eingeschärft zu sagen: Gott vergelt´s. Aber das kam nicht über seine Lippen. Und dann sollte ich immer etwas dazu sagen: „Sag an, Pastor, was hältst du davon, dass Gott ihr vergelten soll, dass sie mir  bei Tee und Gebäck in der Gesellschaft frommer Damen einen Schal gestrickt hat?“ Das ist sie nun, die Gottesfrage mitten im realsozialistischen Leben. Da ging durchaus nicht alles seinen sozialistischen Gang. Die Gottesfrage außerhalb der Bibelstunde und des Gottesdienstes, von außen wurde sie gestellt und konnte offenbar nur zur Sprache kommen, weil im Pfarrhaus noch  Licht brannte. Das war auch die Zeit, in der sich Genossen mit Humor, die hat es auch gegeben, durchaus niveauvolle theologische Witze erzählt haben:

 

Der Genosse Gläubig, irritiert davon, dass im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat immer noch in 1000 Pfarrhäusern das Licht brennt, fragt bei der Parteiversammlung mit revolutionärer Ungeduld nach. Wann stirbt sie denn nun, die Religion? Der Parteisekretär antwortet so gar nicht linientreu: „Das weiß der liebe Gott allein.“

 

Fritz hat sich immer verabschiedet mit dem demselben Satz - ein Ritual: „Schade, Pastor, dass du auf der falschen Seite stehst!“ Diese Geschichte steht natürlich im Verdacht, eine Don-Camillo-und-Peppone-Romanze zu sein. Ich habe sie Ihnen dennoch erzählt und zwar als Gleichnis für eine Normalität kirchlicher Existenz im Sozialismus. Fritz war kein Funktionär eines kirchenfeindlichen Regimes. Er empfand sich eher als Repräsentant einer von der Kirche enttäuschten Klasse. Und dafür suchte er Verständnis bei der Kirche. Kirche im Sozialismus: Das war auch die Kirche, die im Blick auf die historischen Bündnisse von Thron und Altar, von Protestantismus und Deutschtum, von Kirche im bildungsbürgerlichen Milieu kritisch mit sich selbst war. Fritzens Bedauern: „Schade, dass du auf der falschen Seite bist“, hatte bei manchen von uns durchaus ernste Fragen ausgelöst. War denn diese neue Gesellschaftsordnung mit ihren neuen Machtverhältnissen, „die Machtfrage, Genossen, die Machtfrage ist entscheidend...“, zwangsläufig die falsche Seite für Christen? Musste man um Christi Willen entweder in den Westen abhauen oder im inneren Exil überwintern oder wie die Geschwister Scholl Flugblätter drucken? Oder hatte Gott selbst etwas ganz anderes im Sinn mit seinen Leuten? Um diese Fragen wurde eigentlich immer gerungen. Die Kirche, in der ich glauben gelernt habe, war immer auch ein Ort für politische Gewissensfragen. Maßgebend für die Gewissensbefragung war die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen aus dem Jahr 1934. Was hieß das jetzt, dass uns durch Christus „frohe Befreiung aus gottlosen Bindungen“ widerfährt „zum dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen“. Und die Verwerfung der falschen Lehre, es könne Bereiche unseres Lebens geben, in denen wir nicht ihm allein, sondern anderen Herren zu eigen und dienstbar wären? Welche Praxis im Leben des einzelnen Christen und der ganzen Kirche sollte damit verworfen werden? Der Staat (diese/unsere DDR) hatte auch nach der Heiligen Schrift das göttliche Mandat, in der unerlösten Welt für Recht und Frieden zu sorgen. Inwiefern traf aber auch auf diesen Staat die Verwerfung der falschen Lehre zu, der Staat könne als einzige Ordnung menschlichen Lebens einen totalen Anspruch auf den Menschen erheben? Diese Fragen wurden uns nicht nur durch die neuen Verhältnisse aufgezwungen. Wir haben sie auch gehört als die Anfrage Gottes an uns. Ich will keine Bewertung eigener und anderer Leute Irrtümer aus heutiger Sicht vornehmen, sondern um Verständnis werben für die Kontroverse.

 

2. Am Ende des konstantinischen Zeitalters?

Am linken Rand des kirchlichen Spektrums bewegten sich unter anderem die in der Gossner-Mission engagierten Kirchenleute. Ihr Antwortversuch ging etwa so: Das konstantinische Zeitalter, das Zeitalter der Kirche an der Macht ist vorüber, das christliche Abendland geht zu Ende. Das ist aber nicht das Ende unserer Hoffnung auf das Reich Gottes. Wir können wohl kritisch unterscheiden zwischen Vision und Realität, sehen doch aber Spuren des Reiches Gottes in einer gerechteren und friedlicheren Gesellschaft. Insofern war ihnen das sozialistische Experiment die Probe wert und nicht einfach zu verwerfen. Sie suchten vergeblich den partnerschaftlichen Dialog mit den Marxisten, unterhielten ökumenische Kontakte und standen den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt nahe. Besonders Nicaraguas Sandinisten mit ihrem Kulturminister, dem Priester Ernesto Cardenal, galten als Avantgarde einer gerechteren und friedlicheren Gesellschaft und die so andere Bibellektüre, die so anderen Gottesdienste in der christlichen Bauern- und Fischer-Kommune Solentiname galten als Beweis für die Vereinbarkeit von Revolution  und christlicher Hoffnung. Nicht wahr, wer ist denn das Volk, das in der Finsternis wandelt? Es sind die landlosen Campesinos, die für einen Hungerlohn anderer Leute Schafe hüten. Ihnen wurde der Heiland geboren, ihnen singen die himmlischen Heerscharen vom Frieden auf Erden. Sie knüpften an die Tradition der französischen Arbeiterpriester an und gingen mit dem Evangelium in die volkseigenen Betriebe, in die Plattenbauten. Sie standen mit ihrem Zirkuswagen in der ersten sozialistischen Stadt. Alleinstellungsmerkmal: Keine Kirche!

 

Die Ost-CDU wollte den kirchlich gebundenen Menschen Gelegenheit geben, sich politisch zu engagieren und am Aufbau des Sozialismus als Christen mitzuwirken. Der gemeinsame Humanismus schien ihnen größer und bedeutsamer zu sein als die weltanschauliche Differenz. Auch die CDU hatte ihre Theologie. Ein Wort des Propheten Jeremia spielte darin eine große Rolle. Jeremia hatte an die im babylonischen Exil lebenden Kinder Israels einen Brief geschrieben und ihnen geraten, sich zu arrangieren: „Lasst den Kopf nicht hängen und kommt nicht auf oppositionelle Gedanken, Gott ist euch auch fern der Heimat nahe. Darum baut Häuser, legt Gärten an, heiratet, setzt Kinder in die Welt und suchet der Stadt Bestes!“

 

 

3. Kirche im Sozialismus

Kirchenoffiziell wurde  die Frage: „Was hat Gott hier mit uns vor?“ am 6. März 1978 in einem Spitzengespräch  zwischen dem Bund Evangelischer Kirchen und dem Staatsrat der DDR mit der Formel: „Kirche im Sozialismus“ beantwortet. Das war als Ortsbestimmung gemeint, also nicht Kirche für oder gegen, sondern im Sozialismus. Nur eine Ortsbestimmung und mithin ein Dokument der kirchlichen Selbständigkeit gegenüber dem Staat? Das haben die Konservativen in der Kirche heftig bezweifelt und sie kritisieren den so genannten Schönherr-Kurs bis heute. In den Gemeinden wirklich populär geworden ist ein anderes Ergebnis des Spitzengesprächs am 6. März 1978 – Schönherr sinngemäß: „Wie gut das Verhältnis von Staat und Kirche wirklich ist, entscheidet sich immer an der Gemeindebasis.“ Da dem nicht widersprochen worden ist, ist dieses Schönherr-Wort zur Berufungsinstanz geworden bei so genannten Schwierigkeiten insbesondere in der Schule.  Die Benachteiligung oder Diffamierung eines einzelnen Schülers wegen seines Glaubens lag ja nun offiziell nicht mehr im Interesse des Staates, der gerade ein Agreement mit der Kirche geschlossen hatte. Manchmal hat das mit der Berufung geklappt. Oft nicht. Die Schule blieb ideologisch verhärtet und insbesondere beim Zugang zur zwölfklassigen Erweiterten Oberschule und damit zum Abitur machte die Partei der Arbeiterklasse ihre führende Rolle brutal geltend. Auf fatale Weise war das logisch, denn Wissen ist Macht und so musste die Zurückdrängung der konfessionell gebundenen Menschen aus Führungspositionen hier ansetzen. Auf dem Felde der Volksbildung ist wohl der größte Schaden angerichtet  worden. Nicht nur Pfarrerskinder hatten zu leiden, und viele können den Eingriff in ihre Biografie durch die Bildungspolitik der DDR bis heute nicht verwinden. Der Logik der Macht folgend, gab es auch immer mal wieder einige Vorzeige-Abiturienten aus kirchlichen  Elternhäusern. In der Regel aber waren die Bildungswege lang und kompliziert. Man konnte eine Berufsausbildung mit Abitur machen oder sich beim Kirchlichen Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder einschreiben. Nicht wenige haben Theologie studiert, nicht weil sie unbedingt Pfarrer werden, sondern weil sie unbedingt studieren wollten. Im Ergebnis hat die Bildungspolitik der DDR die Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht angeheizt.

 

 

4. Reibefläche zwischen Macht und Geist

Und die Kirche im Sozialismus blieb und wurde zunehmend, bei Zuspitzung der inneren Widersprüche, die einzige massenwirksame Reibefläche zwischen Macht und Geist. Das subversive Aufmucken des Geistes kommt immer von unten und hat die um ein gutes Verhältnis von Staat und Kirche bemühte Kirchenleitung in manche Verlegenheit gebracht. Der Geist hat weder Rücksicht genommen auf kirchenleitende Sorgen noch hat er sich an den Buchstaben der Veranstaltungsverordnung gehalten. Was war denn der Auftritt von Wolf Biermann im Jahre 1976 in der Prenzlauer Nikolaikirche? Und die Lesungen der Schriftsteller Stephan Heym, Jurek Becker und Daniela Dahn im gottesdienstlichen Rahmen und in kirchlichen Räumen? Glaubensvermittlung oder auch die Kirche gefährdende politische Opposition unter einem allzu weiten Dach der Kirche? „Kirche ist für alle da“, hieß es damals einmütig. Aber ob sie auch für alles da ist, blieb umstritten. Für die Ausreise-Entschlossenen, für die Menschenrechts-Umwelt- und Friedensgruppen?

 

Der Geist weht, wo er will, heißt es in der Bibel. Aber der Geist kommt nicht aus ohne die real existierende Kirche. Die größte Hitze entstand bei der Reibung an der Friedensfrage. Das einzig denkbare Kriegsszenario war die atomare Selbstverbrennung der Menschheit, beginnend auf dem europäischen Schlachtfeld. Die Verweigerung des Waffendienstes hatte für viele christliche junge Männer fast den Charakter eines dritten Sakraments nach Taufe und Abendmahl und kirchenoffiziell wurde die Wehrdienstverweigerung das „deutlichere Zeichen“ genannt. In der Regel absolvierten junge Christen ihre Wehrpflicht bei den Bausoldaten. Der Staat hütete die Existenz dieser Alternative zum Dienst mit der Waffe wie ein Staatsgeheimnis. Man erfuhr von dieser Möglichkeit im Konfirmandenunterricht und bei den Abkündigungen im Gottesdienst, durch die Jugendmitarbeiter und die Information des Jungmännerwerkes, nicht aber aus der Zeitung.

 

Die Kompanien der Spatensoldaten waren die intensivsten Bibelgesprächskreise der Kirche im Sozialismus. So düster das Kriegsszenario, so leuchtend die Friedensvision. Die Verheißung des Propheten Micha wurde nicht eschatologisch verstanden als Gottes Fernziel mit der Menschheit, sondern durch die Jugendarbeit der evangelischen Kirche zum Gebot der Stunde erklärt. Micha 4: „Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeglicher wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen.“ Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Bekenntniszeichen. Und als die blauuniformierte Transportpolizei angewiesen wurde, Jagd zu machen auf die jungen Leute mit den Aufnähern, erschien Bischof Forck demonstrativ bei offiziellen Anlässen mit dem Aufnäher am Revers. Nie war die Übereinstimmung zwischen Kirchenbasis und Kirchenleitung größer.

 

Noch 1986 wurde die Formel „Kirche im Sozialismus“ präzisiert: „Die Kirche sieht die Gesellschaft, in der sie lebt, als den ihr von Gott zugewiesenen Ort zur Bewährung ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe an. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei denen, die Not leiden und in ihrem Gewissen bedrängt sind.“ Eine angestrengte Formulierung. Dieser Verlautbarung merkt man die Anspannung schon an, die sich wenige Jahre später entladen wird ... in einer friedlichen Revolution!

 

 

5. Glaubensvermittlung durch die Evangelische Kirche im Sozialismus.

Wie war das denn im Alltag der Gemeinden abseits der spektakulären Ereignisse, wo sich das Verständnis für die zeichenhafte Selbstverbrennung des Pastors Oscar Brüsewitz in Grenzen hielt, wo Konfirmation und Jugendweihe im Grunde friedlich koexistierten und nur für eine ganz bewusste Minderheit eine Bekenntnis-Alternative darstellte, wo die Mitgliedschaft bei den Jungen Pionieren und in der FDJ für die meisten Gemeindeglieder eher ein ärgerliches Muss als eine wirkliche Bedrängnis im Glauben war?

 

Heute spricht man ja gern von der spirituellen Wüste, die die SED-Herrschaft und besonders die Margot-Honeckersche-Bildungspolitik hierzulande hinterlassen hat. Es stimmt ja, viele haben die Kirche verlassen. Aber die andere Seite ist doch die: Alle, die in der Kirche geblieben sind, hatten einen guten Grund dafür. Ich nenne ein paar gute Gründe:

Wenn ich schon in die LPG eintreten musste, will ich wenigstens aus der Kirche nicht austreten. So weit geht mein Opportunismus dann doch nicht. Das kann ich doch meiner Oma nicht antun. Ich will nicht beerdigt werden wie ein Hund oder mit dem Lied vom kleinen Trompeter. Ich bin doch kein lustiges Rotgardistenblut. Wenn ich tot bleibe, so sagten sie in der Prignitz, dann soll der Pastor singen lassen: „Jesus, meine Zuversicht“. Man kann ja nicht wissen, ob es noch mal anders kommt.

 

Bei dieser Aufzählung guter Gründe, in der Kirche zu bleiben, habe ich darauf verzichtet, die ganz großen Glaubensbekenntnisse zu nennen: „Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir.“ So haben die Leute im Konsum und in der Kneipe nicht geredet. In der Kirche zu bleiben aus welchem guten Grund auch immer, aus Trotz oder Sturheit nun gerade nicht!, war das Bekenntnis. Wir stoßen hier auf ein Charakteristikum insbesondere der märkischen Glaubenslandschaft. Man geht in dieser religiös gemäßigten Zone für Bekenntnisse nicht gleich auf die Barrikaden und lässt sich andererseits seinen Glauben nicht so schnell nehmen.

 

Was war ein Dorfpfarramt in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts? Es war Seniorentreff und Jugendclub, Reisebüro und Bibliothek für verbotene Bücher, Volkshochschule und Sozialstation. Und in der Dunkelheit sogar Anlaufpunkt für Fritz Schobert, damit er seine Gottesfrage loswerden kann. Ein Kulturhaus: Die so genannten Gemeindeseminare waren attraktive Abendveranstaltungen, weil sie thematisch anspruchsvoll und pädagogisch wertvoll waren. Biblische Erwachsenenbildung. Die Gleichnisse Jesu - welch ein Zündstoff für Diskussionen. Wie ist das mit Gleichheit und Gerechtigkeit? Was, wie oft soll ich vergeben? Sieben mal siebzig mal? Das ist doch wohl zuviel verlangt! Und eine andere Geselligkeit war immer dabei. Kirche im Sozialismus war bei allen Irrungen und Wirrungen eine bibelkonzentrierte, eine lernende und eine feiernde Kirche.

 

Ich will damit sagen, die Kirche war in dieser Phase wirklich bei der Sache. Uns war eine ziemlich einmalige religiöse und kulturelle Monopolstellung zugefallen. Wir mussten uns um Aufmerksamkeit nicht bewerben. Die erhöhte Aufmerksamkeit der „Staatsorgane“ war nicht nur lästig und manchmal wirklich gefährlich, sie war uns auch peinlich. Die haben das wichtig genommen, wenn sich zwei oder drei ebenso wie 20 oder 30 um die Bibel versammelt haben. Natürlich wollten sie sich nichts entgehen lassen.

 

Wenn Besuch aus der badischen Partnergemeinde kam, haben sich die Staatsorgane über die inhaltliche Dichte kirchlicher Arbeit gewundert. Insbesondere bei der Jugendarbeit fiel ihnen das auf. Sie fanden es bemerkenswert, dass bei einer kirchlich verantworteten Jugendmaßnahme, Sprachgebrauch West, gebetet und gesungen wurde. Wir nannten das Unternehmen „Bibelrüstzeit“ und fanden das selbstverständlich. Und doch waren wir keine weltfremden Frömmler. So ging es zu bei einem Wochenend-Seminar der Evangelischen Schülerarbeit in Hirschluch. Unter dem angegebenen Thema, sagen wir mal „von der Freiheit eines Christenmenschen“ fanden die jungen Leute zu ihren Themen. Und es wurde mal wieder eine lange Nacht: Sie haben noch einmal Schmalzstullen geschmiert und Tee gekocht. Irgendwann, ganz spät, sind sie mit der Gitarre an den See gegangen. Blues im Mondschein, Hannes-Wader- und Gerhard-Schöne-Lieder für die Rehe.

 

Ein geradezu klassisches Thema kirchlicher evangelischer Jugendarbeit (Schülerarbeit) deute ich mit den Stichworten: Materialismus-Idealismus-Christlicher Glaube – wissenschaftliches Weltbild an. Jede Schülergeneration musste sich mit der so genannten Grundfrage der Philosophie auseinander setzen. Hartnäckig wurde behauptet, der christliche Glaube sei eine idealistische Weltanschauung. Muss man sich als junger Christ angegriffen fühlen, wenn es in der Internationale heißt: „Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ ... ? Und ist Schillers „Ode an die Freude“ etwa ein christlicher Text, weil da behauptet wird: „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen ... “ ? Kirche im Sozialismus war ein Forum für solche theologischen Fragen.

 

 

6. (K)ein Fazit

Mit einer gewissen Enttäuschung bemerkt ein Freund, dass das heute alles beherrschende kirchliche Thema die Bestandssicherung unter dem Druck der ökonomischen Verhältnisse sei. Das ist zwar ungerecht, aber es ist auch etwas Wahres dran: Die Kirche im realen DDR-Sozialismus war eine von Geldsorgen freigestellte Kirche. Jedenfalls haben die Pfarrer nicht ängstlich die Häupter ihrer Lieben gezählt, um herauszukriegen, ob das Geld für die Pfarrstelle reicht. Sie hatten andere Sorgen.

 

Derselbe Freund schaut auf die Bedeutung des ÖRK in Genf für die Gemeinden in der DDR zurück und fragt: Wer kennt den Ökumenischen Rat heute noch und was machen die eigentlich, außer sich mit Homosexualität und Frauenordination zu befassen? Das ist  ungerecht, aber auch daran ist etwas Wahres. Wir hatten andere Themen: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung.

 

In der Bibel heißt es: „Jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ Übrigens, dieses Bibelwort hat eine DDR-Rockgruppe, die Puhdys, besungen. Ob wir mit jener Zeit, mit dem, was uns zugefallen ist und zugemutet wurde, etwas anzufangen wussten? Gott weiß es. Und die Frage wiegt genauso schwer wie die andere: Was ist denn das Gebot dieser Stunde?

 

 

* Hans-Ulrich Schulz ist Generalsuperintendent des Sprengels Neuruppin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg - schlesische Oberlausitz, auf dessen Territorium sich unsere Gemeinde befindet, ohne ihm anzugehören

 

 

 

"Das Wort Gottes und die Grenzen des Erträglichen"

Thesen zur Disputation zum 300. Jahrestages des Edikt von Potsdam (1985)

 

 

 

   

 

Stand: 19. Februar 2020

 

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