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Calvin und die Demokratie

... oder, wahre Gerechtigkeit besteht in der Barmherzigkeit gegen die Elenden

 

Eberhard Busch

 

  1. Zum Problem des Themas

  2. Theologische Weichenstellung

  3. Die Gestalt der Kirche

  4. Das Verhältnis zum Staat

  5. Zusammenfassende Bemerkungen

 

 

1. Zum Problem des Themas

Als in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts deutsche Theologen gegen die demokratische Lebensform argumentierten, war nicht zuletzt das ein Vorwurf gegen den 'Calvinismus', daß er eben diese Lebensform begünstige. Es ist richtig, die moderne Demokratie hat sich in Ländern entwickelt, in denen auch der 'Calvinismus' verbreitet war. In der Forschung ist mannigfach gezeigt worden, daß das kein Zufall war, sondern daß es in der Tat eine positive Beziehung zwischen beiden Größen gibt.1 Das Thema ist darum theologisch von Interesse, weil wir, wenn hier eine positive Beziehung besteht, dabei ja wohl den Argumenten begegnen dürften, aus denen sich die Demokratie - in der Kirche und im Staat - christlich bejahen läßt. Das theologische Argument, das damals in Deutschland gegen sie geltend gemacht wurde, war der Hinweis auf die menschliche Sünde. Deren Tragweite liege darin, daß der Mensch 'zügellos' seine Sünden ausleben und ein anarchisches Chaos heraufführen würde, wenn er nicht straff an den Zügel einer autoritären 'Obrigkeit' genommen werde.2 Darum könne es die Kirche noch unbedingter als selbst solche Obrigkeit sagen, daß deshalb die Menschen dieser gehorsam untertan sein müssen, und das selbst dann, wenn die Inhaber dieser Autorität für ihre Person ihrerseits 'zügellos' leben, solange nur ihr Amt vom Volk Gehorsam verlange und es an die Zügel nehme. Hingegen lebe die Demokratie vom Wahn des Glaubens an das Gute im Menschen und drohe, weil sie solches Amt bestreite, eben jenes Chaos zu beschwören. Aus dieser Perspektive schienen die 'Calvinisten', die die Demokratie begünstigten, es mit der Sünde der Leute nicht ernstzunehmen und auf den Staat 'zersetzende' Wirkungen auszuüben. Oder hatten diese andere, bessere, aber doch auch theologische Gründe, aus denen sie hier eben nicht Nein sagten, wo jene Nein sagten?

Indes ist unser Thema, bei näherem Licht besehen, komplizierter, als der erste Eindruck es vermuten läßt. Zweierlei ist von den vorliegenden Forschungen her dazu zu sagen. Zum einen: Man pflegt gerade bei unserem Thema eine Zäsur zwischen Calvin und dem 'Calvinismus' zu setzen. Gewiß wird man überhaupt zwischen beiden zu unterscheiden haben, da Calvin bei weitem nicht die prägende Autorität für die gleichwohl nach ihm benannte, in Wahrheit sehr pluriforme Bewegung des 'Calvinismus'3 hatte, wie sie Luther entsprechend für das Luthertum hatte - was übrigens auch etwas mit unserem Thema zu tun hat, weshalb auch in der Regel die Reformierten 'Calvinismus' als Selbstbezeichnung ablehnen. Aber eben, gerade in der Frage unseres Themas rechnet die Forschung mit einer tiefgreifenden Abweichung Calvins von dem ihm folgenden Reformiertentum. Während dieses für die Demokratie offen gewesen sei oder sie doch zumindest "vorbereitet" habe4, könne bei Calvin selbst von einer positiven Beziehung zu ihr keine Rede sein. Er, der noch autoritärer als Luther und verächtlich über den "Pöbel" gedacht habe, habe vielmehr ein "aristokratisches Regiment" in Kirche und Staat bejaht und erstrebt.5

Dieses negative Urteil läßt sich wohl im einzelnen auch lockern - und das ist das Andere, was von der Forschung her zu sagen: Während eine Gruppe von Untersuchungen Calvin in der angedeuteten Weise als einen dezidierten Nicht- oder sogar Antidemokraten einschätzt, wird in einer andere Gruppe einiges dagegen geltend gemacht6, mit dem Resultat, daß Calvin doch so etwas wie eine "konservative Demokratie"7 bejaht oder akzeptiert habe, was heißen kann: eine "aristocracy tempered by democracy"8, oder umgekehrt: eine durch die Aristokratie "gemäßigte Demokratie"9, was aber wohl auf dasselbe hinausläuft. Das für unsere Thema eher negative Bild, wie es die Forschung zeigt, kann anscheinend nach der einen oder anderen Seite variiert, aber doch nur in einem ziemlich kleinen Spielraum variiert werden - solange wir uns darauf beschränken, hier nur Calvins unmittelbare Äußerungen zur Politik und sein praktisches Verhalten in dem damaligen Verhältnis von Christen- und Bürgergemeinde auszuwerten. Solange werden wir wahrscheinlich kaum etwas über die Grenzen dieses Spielraums Hinausweisendes sagen können und speziell nicht verstehen, inwiefern der sich demokratisch öffnende 'Calvinismus' etwas mit Calvin zu tun hatte.

Oder kann doch noch etwas darüber Hinausweisendes gesagt werden? Immerhin fällt auf, daß nicht wenige Forscher ihr in dieser Sache eher negatives Urteil zuletzt auch wieder einschränken können: Zwar habe Calvin "undemokratisch" gedacht, faktisch jedoch "stark auf demokratische Gedanken" hingewirkt und der Parole: Durch das Volk und für das Volk! Anerkennung verschafft.10 Zwar, "Calvin war kein Demokrat, kein Anwalt der Volkssouveränität ... Und doch fürchteten schon die Zeitgenossen die ... demokratisierende Wirkung des Genfer Calvinismus", und nicht zu unrecht, da er in Wahrheit "einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur künftigen Entwicklung freiheitlich-demokratischer Ideen geleistet hat"11. Zwar habe er Demokratie kaum gewollt und praktiziert, aber ihr gleichwohl durch seine "seeds of liberty"12 gründlich den Boden bereitet. Ob es wohl hinreicht, die da gesehene Spannung derart zu erklären, daß - ironischerweise - ein "System" Resultate zeitigen könne, die den Absichten seines Erfinders gänzlich entgegengesetzt sind13? Man kann und muß das ja wohl noch anders sagen in anbetracht dessen, daß man selbst bei dieser Deutung noch die Punkte angeben können müßte, die solche Wirkung hervorriefen - will man sie nicht als einen bloßen Gegenschlag ausgeben, was ja sicher unangemessen wäre. Sprechen wir also lieber die Vermutung aus, daß im 'Denken' Calvins Türen geöffnet wurden, die er vielleicht nicht einmal oder noch nicht genau sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. Dabei mag es immerhin auch so sein, daß die, die dann durch sie hindurchschritten, zwar auch eine Konsequenz zogen, die er noch nicht gezogen hatte und die sie doch von ihm her ziehen konnten, aber daß sie dabei faktisch auch etwas preisgaben und verloren von dem, was er in seiner Ausgangsstellung noch an grundlegenden, überlegenen Einsichten hatte.

 

2. Theologische Weichenstellung

im "Denken" Calvins! - Wir haben uns vor allen Dingen klar zu machen, was in soviel Literatur zu unserem Thema nicht klar ist: daß Calvin in erster und entscheidender Linie nun einmal Theologe und nicht Politiker war und daß seine Stellung zur Politik ein Anhang, eine Zutat zu seiner Theologie ist. Aber in welchem Sinn? Nicht im Sinn einer Vermischung von Theologie und Politik - dagegen hat er sich sogar überdeutlich abgegrenzt (4, 20,1)14! Und darum auch nicht in dem Sinn, daß er seine politischen Ansichten dadurch, daß er sie als Theologe machte, sakrosankt machen wollte! Aber das bedeutete nun auch nicht, daß er bei seinen politischen Äußerungen das Gewand des Theologen ablegte, um es gegen das eines Politikers einzutauschen. Er war ja in Personalunion beides, Glied der Kirche Jesu Christi und Mitbürger eines Staats. Aber er war beides so, daß er zuerst das Eine und dann erst auch das Zweite war. Theologie und Politik war für ihn auch in dem präzisen Sinn zweierlei, daß er eben zuerst christlicher Theologe war und zwar so, daß er dann auch in seiner Stellung zur Politik nicht aufhörte, zuerst Theologe zu sein. Darum ist die erste Frage im Blick auf den Staat für ihn nicht die: Was ist der Staat? Was ist seine wünschbare Gestalt und Aufgabe? Und wie kann 'ich' mich dabei einbringen? Seine erste Frage lautet: Was heißt Gehorsam gegen Gott angesichts dessen, daß es neben und außer der Kirche auch den Staat gibt und daß die Kirchenglieder auch noch Mitbürger eines Staates sind? "Es geht ihm nicht um den Staat, er denkt nicht vom Staat aus, sondern bei Anlaß des Staates und über ihn von Gott aus."15 Das wird durch den Titel unterstrichen, unter dem er in Buch IV seiner "Institutio" davon redet: De politica administratione. Während fast 95 Prozent des Buches IV von der Kirche handeln, und zwar unter dem Leitbegriff ihres Zeugnis gebenden "Dienstes" (ministerium) am Wort Gottes, steht seine knappe Behandlung des Staates eben unter dem Leitwort: ad-ministratio, was natürlich "Regierung" heißt, was aber auch deutlich an die wörtliche Bedeutung des Begriffs anspielt: Zu-Dienung, Hilfeleistung. Gemeint ist nicht das Plumpe, daß der Staat der Kirche zuzudienen habe (obwohl es zwar auch richtig ist, daß die Existenz des rechten Staates auch der Kirche einen Dienst erweist, den sie als solche nicht leisten kann und für den sie dankbar zu sein hat), aber dies, daß der Staat in einer zudienlichen Weise zu den "äußeren Mitteln und Beihilfen" gehört, "mit denen Gott (!) uns zur Gemeinde (societas) Christi einlädt und in ihr erhält" (so der Titel des ganzen Buches IV). Augenscheinlich interessiert sich Calvin am Staat vor allem insofern, als er solche "ad-ministratio" ist.

Aber was heißt das? Etwa das? "Pour Calvin, Dieu est le seul souverain", und eben dadurch sei bei ihm schon im Ansatz der 'demokratische' Gedanke ausgeschlossen, "que le peuple puisse etre considéré comme le Souverain dont émane tout pouvoir."16 Dieser Gedanke ist in der Forschung in einer bestimmten Weise so sehr Allgemeingut, daß H. Vahle angesichts der Literatur zu unserem Themas folgende Alternative formulieren konnte:

"Wer ... demokratische Elemente bei den Calvinisten zu entdecken glaubte, der neigte dazu, die Souveränität Gottes dahingehend zu relativieren, daß die Regierungen (zwar) 'von Gott' seien ..., daß aber letztlich immer die souveränen Völker die Herrscher einsetzen. Wer jedoch demokratische Elemente verneinte, der setzte stets das Theorem von der göttlichen Souveränität absolut."17

Diese Sätze decken ja zunächst nur, aber wohl zutreffend eine Gesetzmäßigkeit in Interpretationen des Verhältnisses zwischen Calvin und "Calvinismus" einerseits und deren beider Beziehung zur Demokratie andererseits auf. Demnach kommt umso demokratie-freundlicher die Volkssouveränität zum Zuge, je mehr die (calvinische) Hervorhebung der Souveränität Gottes eingeschränkt wird - und umgekehrt. Diese Alternative ist die Anwendung einer auch sonst bis heute herrschenden Denkweise, daß sich die menschliche Freiheit umso mehr entfalten kann, je mehr Gott "relativ", um nicht zu sagen: schwach gedacht werde, während ein Ernstnehmen der unbedingten Souveränität Gottes zu Lasten der menschlichen Freiheit gehe. Es ist indes eine fundamentale Frage, ob die behauptete Alternative nicht einem Verstehen des anstehenden Sachverhalts im Wege steht. Es sei versucht, diese Frage etwas näher zu erläutern und zu bedenken.

Wir könnten Calvins theologische Zentralerkenntnis hier für einmal auch mit der Formel der "Souveränität Gottes" bezeichnen.18 Sie steht ja schon hinter seiner inneren Nötigung, auch im Verhältnis zum Staat zuerst Christ und Theologe zu sein. Es bedarf zum Verständnis dieser Formel indes einiger Erläuterungen, um sehen zu können, daß die Souveränität Gottes und die Freiheit des Volks nicht notwendig einen Gegensatz bilden. Zunächst: Es geht bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und darum in ihr nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Seine Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: "Ehre Gottes" (seine gerechte Souveränität) und "Heil des Menschen" (seine "Erlösung" durch Gottes Barmherzigkeit).19 Beide stehen und bleiben wohl in Spannung zueinander20, aber beziehen sich auch aufeinander. Denn "Gott hat nach seiner unendlichen Güte alles so eingerichtet, daß nichts (!) zu seiner Verherrlichung dient, was nicht auch zugleich uns heilsam ist."21 Es sei schon angemerkt, daß sich in Calvins Sicht der inhaltlichen Aufgabe des staatlichen Regiments beides widerspiegelt: Sorge für die Gottesverehrung - sagen wir: Sorge für den äußeren Rechtsschutz des kirchlichen Gottesdienstes22 und Sorge für die gesellschaftliche humanitas, für das Gemeinwohl aller und für den Frieden (communis omnium salus et pax) (4,20.9.3). Indem Calvins Theologie mit dem erstem auch jenen zweiten Brennpunkt hat, ist mit der Souveränität Gottes nun doch keine schrankenlose, 'absolute' Herrschaft gemeint - wohl seine ihm rechtmäßig zukommende, gerechte und gebieterische Macht, seine Macht, in der er nicht aufhören kann, sondern daran 'gebunden' ist, in allem, was er tut, Gott zu sein, aber so auch seine Macht, die nicht im Widerspruch steht zu dem, was er faktisch in der und laut der biblisch bezeugten Geschichte tut, nicht im Widerspruch zu seinem tätigen, guten Willen zu Gunsten und zur Befreiung des Menschen. Aufgrund dieser Beziehung ist die Bedeutung der "Souveränität Gottes" konkret im Zusammenhang mit der Erkenntnis des ersten Gebots zu suchen, ohne die für Calvin uns auch Gottes Wohltat zum Heil des Menschen mißverständlich würde, nämlich so, als bestehe seine Wohltat in der Befriedigung (falscher) menschlicher Selbstliebe. In seiner Souveränität behauptet sich Gott - gemäß dem ersten Gebot - als der, dessen Geschöpf der Mensch und der nicht Geschöpf des Menschen ist. In ihr stellt Gott also klar, daß wir das "salus hominum" nicht uns selbst, sondern allein Gott verdanken.

Jenen zwei Brennpunkten im Zentrum von Calvins Theologie entspricht bei ihm ein ebenfalls polares menschliches Gottesverhältnis: Dem Heil aus Gottes reiner Barmherzigkeit entspricht der Glaube an den Freispruch des Menschen aus Gnade ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit; der frei-souveränen Ehre Gottes entspricht der Gehorsam des Menschen aufgrund dessen, daß wir, weil wir nicht Schöpfer Gottes, sondern Geschöpfe Gottes sind, ihm und nicht uns selbst gehören (nostri non sumus, sed Domini); darum haben die Menschen nicht "sich selbst zu gehorchen", sondern dem vorangehenden Gott (Dominum praeeuntem sequi) (3,7.1; vgl. 2,8.14; 4,10.7). Aber indem diese letztere Erkenntnis im Zusammenhang mit der des ersten Gebots zu verstehen ist, liegt der Ton dabei nicht einfach darauf, daß wir zu gehorchen, sondern darauf, daß wir Gott zu gehorchen haben. Das wirft die Frage auf, wem wir legitimerweise gehorchen? Die Antwort, daß wir legitimerweise allein Gott zu gehorchen haben, schließt die Erkenntnis in sich, daß aller Gehorsam gegen Menschen, der Gehorsam im Widerspruch zu Gott ist, illegitim ist. Es ist für reformiertes Denken von Anfang an überhaupt typisch, daß zwar im Blick auf das "Heil der Menschen" klar die Alternative gilt: erlöst nur aus Gottes Gnade und nicht aus Verdienst der Werke, aber im Blick auf das menschliche Handeln die andere Alternative: Gottes Gebot und nicht "menschliche Satzung"23. Für Calvin bedeutet das zwar keinen Freibrief zur Respektlosigkeit gegenüber menschlichen Autoritäten - indem wir sie respektieren, bekunden wir gewissermaßen dies, daß wir nicht "uns selbst" gehorchen, und anerkennen so, daß Gott an uns nicht handelt, ohne sich ihres "ministerium", ihres Dienstes zu bedienen. Aber er bedient sich ihrer, ohne ihnen "sein Recht und seine Ehre zu übertragen" (non ad eos ius suum honoremque transferendo) (4,3.1.). "Als ob Gott auf sein Recht verzichtet hätte zugunsten von Sterblichen, wenn er diesen die Leitung des menschlichen Geschlechts übertrug" (4,20.32)!24 Gott gegenüber sind auch sämtliche irdischen Herrscher, wie nach Calvin vor allem anderen (inprimis) zu beachten ist, nicht mehr als bloße Untertanen (ebd.). So wenig also das Gebot, Gott zu gehorchen, ein Freibrief zur Verwerfung irdischer Autoritäten ist, so wenig bedeutet deren Dienst, zu dem sie Gott einsetzt, deren Aufwertung zu einer göttlichen Autorität und eine Erlaubnis zur Vergewaltigung der Rechte des Volks - das ist es wohl, was Calvin die "Freiheit des Volks" (populi libertas - 4,20.31) nennt. Damit, daß alle, Regierende und Regierte, der Autorität Gottes 'untertan' sind, werden irdische Autoritäten zwar nicht aufgehoben, aber auch nicht glorifiziert, sondern in einer Weise relativiert, die eine Identifizierung irdischer Autoritäten mit der Autorität Gottes ausschließt und verhindert, daß der Gehorsam gegen Gott psychologisch als Einübung allgemein in eine Untertanenmentalität, in eine blinde Folgsamkeit gegen 'wen und was auch immer' verstanden werden kann. Vielmehr drängt der Gehorsam gegen Gott als solcher - nicht zu einer grundsätzlichen Negierung, aber zur grundsätzlichen Unterscheidung seines Anspruchs von allen anderen und so im Kern zu einem kritisch-prüfenden Umgang mit diesen anderen, nur irdisch-menschlichen Ansprüchen.25 Dem entspricht, daß die Teilhabe aller Christen am königlichen Amt Christi zentral in der "liberté de conscience"26, in der "Gewissensfreiheit" besteht: in der im Gehorsam gegen Gott begründeten Freiheit gegenüber allen irdischen Ansprüchen.

Wenn Gottes heilsamer Wille zur befreienden Erlösung der Menschen und sein Anspruch auf ihren Gehorsam nicht einander widersprechen, dann ist dieser Gehorsam nun aber nicht bloß so zu verstehen, daß er in "christliche Freiheit" gegenüber anderen Gehorsamsansprüchen stellt. Dann könnte er solche Freiheit gegenüber diesen nicht sein, wenn nicht der Gehorsam gegenüber Gott auch als solcher so in der Verbindung mit der "christlichen Freiheit" stünde, daß er selbst nicht als blinde Unterwürfigkeit verstanden werden darf. In der Tat betont Calvin, daß überhaupt Gottes noch so bestimmendes Wirken an uns nicht unser verantwortliches Eigenwirken aufheben kann und will (1,17.3.5.; 1,18.2: optime conveniant hanc duo inter se). Darum legt er Wert darauf, daß Gottes Gebieten und unsere Aufgabe, ihm nachzukommen, normalerweise keinen Zwang bedeutet (2,8.14). Mit Zwang verwechselbarer oder erzwungener Gehorsam ist noch nicht der von Gott gewollte Gehorsam.27 Rechter Gehorsam gegen Gott ist somit gar nicht unmittelbar möglich, sondern nur in einem zuvor durch Liebe geschaffenen Vertrauensverhältnis. "Niemand wird sich frei und willig dem Gehorsam gegen Gott unterziehen, der nicht seine väterliche Liebe gekostet und dadurch bewegt wurde, ihn zu lieben und zu ehren" (1,5.3). Aber es geht dabei nicht um eine raffinierte Methode zur Herstellung des Gehorsams; sondern er ist so sehr selbst Gestalt der Liebe zu Gott, daß es erst dann bei uns zu rechtem Gehorsam gegen Gott gekommen ist, wenn wir ihm freiwillig gehorchen - in einem "freiwilligen Gehorsam" (voluntarium obsequium - 3,20.42f.), in der Lust und Freude zum Folgen (obsequendi alacritas - 3,3.15). Und so gehorcht unser Gewissen erst dann Gott und seinem Willen, wenn es das tut "nicht gleichsam durch eine gesetzliche Nötigung erzwungen, sondern freiwillig, befreit vom Joch des Gesetzes" (3,19.4). Es entspricht hier dem souveränen Gott zwar kein ebenso 'souveräner' Mensch; es besteht nun einmal zwischen Gott und Mensch ein unumkehrbares Verhältnis, in dem Gott vorangeht und der Mensch folgt. Aber die Souveränität Gottes ist hier in einer Weise gefaßt, daß sie auch nicht als Verfügung zu blinder Unterwürfigkeit über den Menschen kommt, sondern als der von gesetzlichen Ansprüchen befreiende Anspruch zu "freiem Gehorsam". Wenn das Wort "frei" dabei ernstgemeint ist, dann besagt es anderes als die Zustimmung eines Geketteten zu seinen ohnehin nicht zu beseitigenden Ketten; dann bezeichnet es die eigene, einsichtige, verantwortliche Bejahung und Anerkennung der Legitimität jenes Verhältnisses, in dem Gott uns vorangeht und wir ihm folgen. Wo blinde Unterwerfung ist, da ist unverantwortliche Menschenmasse. Ist aber der rechte Gehorsam, der gegenüber Gott, freier Gehorsam, so ist er der Gehorsam eines verantwortlichen, mündigen Subjekts, ohne dessen Existenz ja auch jene für den Gehorsam gegen Gott wesentlich erforderliche Unterscheidung zwischen seinem Anspruch und anderen Ansprüchen nicht nachvollziehbar wäre.

Nun erfährt die so zu verstehende 'Souveränität Gottes' eine weitere Beleuchtung dadurch, daß durch sie speziell ein tiefgreifender Unterschied gesetzt wird zwischen einem "geistlichen Reich" (regnum spirituale) und der "bürgerlichen Einrichtung" (civilis ordinatio), bzw. dem "politischen Reich" (regnum politicum) (4,20.1; 3,19.15). Jenes, kann Calvin im Anschluß an paulinische Terminologie sagen, betreffe den "inneren", dieses den "äußeren Menschen". Aber zugleich sagt er, diese Terminologie wohl zutreffend deutend: Jenes beziehe sich auf das "zukünftige ewige Leben" (futuram aeternamque vitam) und dieses auf das "gegenwärtige vergehende Leben" (praesentem fluxamque vitam) (4,20.1). Calvin sagt sogar, daß wir es dabei, kraft dieses Unterschieds, gleichsam mit "zwei Welten" zu tun haben, "in denen verschiedene Herrscher und verschiedene Gesetze regieren können" (3,19.15). Aber was bedeutet diese Unterscheidung? Macht sie Christen zu Bürgern zweier Reiche, die sich innerlich-seelisch und äußerlich-leiblich je nach ganz anderen "Herrschern und Gesetzen" zu richten haben?

Die Sache ist komplexer. Indem die Christen jedenfalls von jenem kommenden Reich wissen, bricht es bei ihnen schon in einem "gewissen geringen Anfang" (initia caelestis regni quaedam, 14,20.2) an. Aber dieser Anfang besteht darin, daß sie damit zu Hoffenden und in der Hoffnung auf dieses Reich zu aufbrechenden, mobilen Pilgrimen auf der Erde (peregrinari super terram, ebd.) werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie damit der Erde entfliehen können oder gar dürfen. Indem Gott selbst zwischen beiden "Reichen" den Unterschied setzt, qualifiziert er beide in bestimmter Weise, aber zieht er selbst sich nicht zurück von dem einen, um nur in dem anderen zu regieren. Er qualifiziert damit das "politische Reich" als ein zeitliches, vergehendes, als ein Provisorium; aber so läßt er es gelten und "löscht" nicht etwa "das gegenwärtige Leben aus" (ebd.). Nur als solches Provisorium will er es anerkennen. Aber so erkannt er es an, will es so auch von den Christen anerkannt wissen und will, daß es darin so menschlich zugehe, daß, wer es auslöschen wollte, die Menschlichkeit auslöschen würde; und er will also, daß, solange noch unsere irdische Pilgerschaft währt, in diesem "politischen Reich" - neben dem Schutz der äußeren Gestalt des Gottesdienstes - die Aufgabe angegriffen wird, daß "unser Leben zur menschlichen Gesellschaft gestaltet, unsere Sitte zur bürgerlichen Gerechtigkeit geformt wird, wir verträglich miteinander umgehen und ein allgemeiner Friede und öffentliche Ruhe herrsche" (ebd.). Indem Gott den Unterschied zwischen den beiden Reichen setzt und indem er in diesem Unterschied beide anerkennt, sind wir Menschen auch im politischen Reich nicht seinem Gebot, dem Gebot zur Wahrnehmung dieser Aufgabe entzogen. Christen können und sollen darum diese staatliche Aufgabe bejahen. Aber gerade sie wissen dabei auch, daß alle staatliche Bemühung einen grundsätzlich provisorischen Charakter hat, so daß darüber, in welcher Weise und Form der Staat dieser Aufgabe relativ am besten nachkommt, immer wieder frei und nie abschließend erwogen werden kann und muß. Dieselbe Erkenntnis hält aber auch für Christen die Frage offen, ob oder wie sie die faktische Handhabung des bürgerlichen Reichs durch seine verantwortlichen Leiter anerkennen und unterstützen oder notfalls sich ihr verweigern. Dieselbe Erkenntnis hindert jedoch die Christen auch an dem Wahn, "das Reich Christi unter den Elementen dieser Welt zu suchen oder einzuschließen" (4,20.1), d.h. an dem Wahn, als hätten ihre eigenen Vorschläge und Beiträge zur Handhabung der politischen Aufgabe mehr als eben auch nur einen provisorischen, relativen Charakter.

Gewiß folgert Calvin nicht aus der "Souveränität Gottes" das Recht und die Pflicht einer Demokratie. Er folgert daraus überhaupt nicht die absolute Notwendigkeit einer bestimmten Staatsform. Aber - und das ist zunächst wichtig zu sehen: Es entspricht der "Souveränität Gottes" auch keine allgemeine Untertanenmentalität, auch keine religiöse Sanktionierung autoritärer politischer Herrschaft. Der "freie Gehorsam" gegenüber dem Anspruch Gottes bewährt sich ja gerade in der Nicht-Identifizierung göttlicher mit irgendwelchen irdischen Ansprüchen. Diese Nicht-Identifizierung bedeutet deren Relativierung. Würde man diese irdischen Ansprüche überhaupt aufheben (während wir noch im Pilgrimstand sind), um an ihrer Stelle jenes "geistliche Reich" zu errichten, so könnte das nur bedeuten, daß dann entweder dieses Reich zu etwas Zeitlich-Relativem gemacht oder umgekehrt ein Relatives 'verabsolutiert' würde. Im Rahmen des Relativen, des Vorläufigen und Provisorischen hat der Staat eine legitime Aufgabe und haben seine Organe auch eine legitime Autorität, die christlich anzuerkennen ist, deren Ausübung aber eben darum zugleich auch grundsätzlich relativ, korrigierbar und überprüfbar ist. Ohne ihrerseits diesen Rahmen verlassen zu dürfen, haben Christen einen freien Spielraum, sich an der politischen Aufgabe zu beteiligen, sei es in der Unterstützung und Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, sei es im Versuch zur Verbesserung seiner Gestalt und der Wahrnehmung seiner Aufgabe, sei es notfalls auch in Gestalt von bestimmten Verweigerungen. Der entscheidende Punkt ist bei dem allem die Anerkennung der politischen Aufgabe und der staatlichen Autorität unter der Voraussetzung ihrer Relativierung durch den 'souveränen' Gott. Im Einschärfen dieses Punkts hat Calvin, wie er auch damals faktisch politisch votiert und agiert haben mag, eine Atmosphäre geschaffen, die einem sich gleichsam an Gottes Stelle setzenden Obrigkeitsstaat abträglich und der Vorbereitung eines 'demokratischen' Denkens zuträglich war.

 

3. Die Gestalt der Kirche

Dem, daß Calvin zuerst Theologe und Christ und erst dann auch Bürger war, entspricht, daß wir nicht nicht von seinem Verhältnis zur Politik sprechen können, ohne zuvor nun auch von seiner Bemühung um die Kirche und ihre rechte Gestalt zu reden.28 In dieser Vorordnung der Frage nach der Kirche vor der nach dem Staat geht es nicht um die Wahrung eines Überlegenheits-Interesses, vielmehr um die Einsicht: Die Kirche treibt dann am besten auch 'Politik', wenn sie darum besorgt ist, daß sie - in ihrer Verkündigung und Gestalt - Kirche und als Kirche in Ordnung ist. Die Reformatoren waren sich darin einig, daß die sichtbare Kirche nicht ohne bestimmte Ordnung und Rechtsgestalt existieren kann. Im Protest gegen die römische Rechtskirche, in der einerseits die Bischöfe wie und als weltliche Herrscher auftreten konnten, in der andererseits das Kirchenrecht als "göttliches Recht" ausgegeben wurde, waren sich die lutherische und zwinglische Reformation überdies einig, daß die Kirche sich ihre Ordnung und äußere Gestalt von der 'Obrigkeit' geben lassen soll und kann, weil es dabei ja nur um die äußerliche, weltlich-sichtbare Erscheinung der Kirche geht, weil sie aber auch faktisch mit einer 'christlichen Obrigkeit' rechnen zu dürfen meinten. Calvin begann gegenüber dieser Lösung kritisch zu werden - wohl auch durch unliebsame Erfahrungen mit einem unliebsamen Hineinregieren des Staats in die Kirche bei einem 'Staatskirchentum'29, aber auch angesichts der Notwendigkeit der hugenottischen Kirche, sich ohne oder gegen staatliche Einsprüche zu organisieren. Demgegenüber hat Calvin im Prinzip die Entscheidung gefällt, daß die Kirche ihre Ordnung sich selbst gibt - eine Entscheidung, deren Konsequenz er kaum ahnen konnte, weil sie letztlich zur Trennung der Kirche von einem 'weltanschaulich neutralen' Staat führte. Diese Konsequenz wollte Calvin wohl nicht; er sah ja für den Staat auch die Aufgabe der Sorge für das Einhalten der ersten Tafel des Dekalogs, d.h. für den Schutz des Gottesdienstes vor. Gleichwohl hat er dieser Entscheidung die Bahn gebrochen. Ausschlaggebend war dafür wieder ein theologischer Grund: Jedenfalls die Kirche kann und soll die "Autorität Gottes" kennen und sich nach ihr richten. Darum hat sie dafür einzustehen, daß ihre "menschlichen Satzungen" (humanae constitutiones) in ihrer sichtbaren Gestalt - zuerst gerade nicht auf die sonst im sichtbaren, weltlichen (staatlichen) Raum geltenden Gesetze, sondern "auf die Autorität Gottes begründet und aus der Schrift genommen" sind. Und das so, daß diese ihre Satzungen dafür sorgen, daß sie eben Kirche ist und in ihrer äußeren Gestalt weder ein Anhängsel an den Staat noch ein Staat wie der weltliche Staat! Freilich, die Kirche ist jene noch auf Erden wandernde Pilgerschar. Darum sind ihre Ordnungen nicht "göttliches Recht" (ius divinum), sondern eben "menschliche Satzungen", nicht heilsnotwendig, keine unveränderliche Ordnungen, sondern zeitlich, variabel und korrigibel (4,10.30). Sie sind unter den jeweiligen Umständen zu fassen, aber so, daß sie jeweils beides in Einklang zu bringen versuchen: das Zusammenleben in Liebe und die Respektierung der Freiheit der Gewissen, um eben damit ihre Ausrichtung auf die "Autorität Gottes" bezeugen. Ob nicht in solcher Auffassung die Erwartung gehegt wurde, daß eine Kirchenordnung, die als "menschliche Satzung" das leistet, mit den entsprechenden Umsetzungen auch für die Gestaltung des bürgerlichen Gemeinwesens vorbildlich sein könnte?

Zunächst, eine kirchliche Ordnung ist nach Calvin um der Gemeinschaft und der gegenseitigen Liebe willen nötig (ad communem usum - ut communi officio alatur inter nos charitas, 4,10.28). Es geht dabei um mehr als um das, was Calvin zwar auch nüchtern nennt: um eine gewisse Einschränkung der persönlichen Freiheit zugunsten eines untumultuösen, anständigen Auskommens miteinander. Es geht dabei vor allem um die Berücksichtigung der Liebe (charitatis ratio, 4,10.32). Die Gestalt der Kirche hat dem zu entsprechen, daß sie der gegenseitigen Liebe, der sozialen Kommunikation im Leben der Kirche Raum gibt.

"Nach der Ordnung werden die Heiligen zur Gesellschaft (societas) Christi versammelt, daß sie die Wohltaten, die Gott ihnen gewährt, gegenseitig sich einander mitteilen (communicent) ... Es kann nämlich nicht anders zugehen, wenn sie überzeugt sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, daß sie als solche, die in geschwisterlicher Liebe einander verbunden sind, einander gegenseitig das Ihre mitteilen" (4,1.3).

Wenn wir ferner bedenken, daß für Calvin konkret die Abendmahlsfeier Ansatz für seine Fassung der Kirchenordnung war, so haben die Sätze Gewicht, mit denen er die Bedeutung des Mahls für das Zusammenleben der Gemeinde umschreibt:

"Wir können nicht mit unseren Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein. Wir können Christus nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben. Die Sorge, die wir um unseren Leib tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind; und wie kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich auf alle anderen übertragen wird, so können können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst durchlitten" (4,17.38).

Es läßt sich von hier aus die These von Erik Wolf verstehen und vertreten: "Eine bruderschaftliche Verfassung ... muß jeder calvinistischen Sozialordnung als eine Grundforderung christlicher Lebensgemeinschaft erscheinen."30 Jedenfalls muß nach Calvin die Ordnung der Kirche durch die Dimension solidarischer Gemeinschaft und der Verantwortung füreinander ausgezeichnet sein.

E. Wolf setzt hinzu, daß diese "bruderschaftliche Verfassung" bei Calvin "auf selbstverantwortliche Mitregierung jedes einzelnen Gemeindemitglieds ... gegründet ist." Nun, Calvin hat auch hier mehr nur eine Tür entdeckt, als daß er durch sie hindurchgeschritten wäre und dem organisatorisch Raum gegeben hätte.31 Aber richtig ist, daß er sich in dieser Richtung bewegt hat, indem für ihn die soziale Dimension der Kirche nicht auf Kosten der Freiheit ihrer Glieder hervorgehoben werden darf. Ist der "Befreier" (liberator) Christus ihr König, dann gilt: "Von dem Gesetz der Freiheit (libertatis lege), nämlich vom heiligen Wort des Evangeliums, müssen sie regiert werden (regantur) ...: keine Knechtschaft darf sie mehr festhalten, keine Fesseln dürfen sie mehr binden" (4,10.1). Aber wiederum kann diese 'christliche Freiheit' nicht bloß als Vorbehalt gegenüber einer Kirchenordnung verstanden werden, sondern muß sie Gestalt und Ordnung der Kirche selbst bestimmen - und erst dann würden der Aspekt der Gemeinschaft und der Freiheit einander ergänzen und bedingen. Tatsächlich hat Calvin den Weg dafür geöffnet, indem für ihn jeder Christ kraft seines Glaubens (also nicht aufgrund der Einsetzung und Erlaubnis eines kirchlichen Amts und darum auch nicht als dessen Handlanger, nicht als 'Mitarbeiter' des Pfarrers) am dreifachen Amt Christi - als König, Priester und Prophet - aktiv teilhat.32 In dieser Beziehung steht für ihn kein Christ über und keiner unter den anderen, sondern stehen alle in eigener Freiheit nebeneinander. "Die Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden sind." (4,6.9). Im Blick darauf kann man im Ansatz bis Calvin zurückverfolgen, was K. Barth über die synodale Tradition des Reformiertentums sagte: "Ihre formelle Aristokratie ist doch nur repräsentative Demokratie, Korrelat der Autokratie Christi. Kein Amt, kein Klerus darf sich hineinschieben zwischen den Imperator Christus im Himmel und die auf Erden souveräne christliche Landsgemeinde."33 Wie sehr für Calvin immerhin schon Christsein mündiges Christsein heißt, zeigt seine förmliche Definition der Kirchengliedschaft: Als "Glieder der Kirche" hätten die zu gelten, "die durch das Bekenntnis (confessione) des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und die durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen (profitentur)" (4,1.8). Das Gemeinte wird durch seinen Brief an wegen ihres Glaubenszeugnisses inhaftierte Frauen in Paris illustriert:

"Und wenn sie aus dem Geschlecht oder äußeren Stand Anlaß nehmen, ganz besonders über uns herzufallen (wir sehen ja, wie sie über Frauen und einfache Handwerker spotten, als käme es denen nicht zu, von Gott zu reden und ihr Seelenheil zu kennen!), so müssen wir sehen, wie Gott täglich wirkt durch das Zeugnis von Frauen und seine Feinde bestürzt macht." "Da es ... Gott gefallen hat, Euch zu berufen so gut wie die Männer (denn vor ihm gilt nicht Mann noch Weib), so müßt Ihr auch Eure Pflicht tun ... und dürft ... nicht feige sein." "Da wir alle zusammen unser Heil haben in ihn, müssen wir einmütig, Männer wie Frauen, seine Sache führen."34

Gewiß kennt und befürwortet Calvin auch eine Leitung der Gemeinde, doch strikt in der Klammer, daß Christus und sein Wort hier allein die "Regierung" (imperium) hat: "Er allein soll in der Kirche bestimmen und leiten (regere et regnare)" (4,3.1). Das hat zur Folge, daß die Kirchenleiter dann nicht als 'Kirchenobere', als 'Amtsträger', sondern als Diener (ministri) Christi zu verstehen sind. Konkretes Zeichen dafür ist, daß nach Calvin die Gemeindeleitung strikt nicht bloß einem Einzelnen, sondern einem Kollegium obliegt, und zwar einem, in dem das dreifache Amt Christi sich widerspiegelt in einer Auffächerung von drei verschiedenen, von einander getrennten Funktionen: Dem prophetischen Amt Christi entspricht die Verkündigungs- und Unterrichtsaufgabe, dem königlichen der kirchenleitende Dienst des Presbyteriums und dem priesterlichen Amt Christi die diakonische Armenfürsorge. Was die Gemeindeleitung in diesen drei Funktionen tut, kann den Gemeindegliedern aber darum keine fremde Herrschaft über sie sein, weil ja zugleich jeder Christ als solcher in der Teilhabe an Christus an allen drei Funktionen teilhat und sie in sich vereint. Wiederum, in der offiziellen Gestalt der Gemeindeleitung kommt es offenbar auf eine 'Gewaltenteilung'35 oder vielmehr Funktionen-Auffächerung an und darauf, daß diese drei Aufgaben gerade nicht in einer Hand vereinigt sind. Die "formelle Aristokratie" der Gemeindeleitung ist somit faktisch in der Tat, als "Korrelat der Autokratie Christi", eine "repräsentative Demokratie".

Diese These ist nicht weither geholt. Denn Calvin vollzog in seiner Ämterlehre bewußt eine tief greifende Korrektur am römischen 'System', in dem nach seiner Sicht im Papsttum als dem sichtbaren Stellvertreter Christi eben diese drei Funktionen in einer Hand vereint sind: das oberste Priesteramt (summum sacerdotium, 4,6.2), die Autorität zur Aufstellung von Glaubenssätzen (authoritas dogmatum tradendorum, 4,8.1) und die gesetzgebende Gewalt (potestas in legibus ferendis, Titel zu 4,10), also kurz, die Priester-, die Lehr- und die Rechts-Gewalt. Es war ein folgenschwerer Schritt, daß Calvin dagegen lehrte, daß diese dreifache "Gewalt" ausschließlich Christus und kein irdischer 'Stellvertreter' innehat, doch so, daß alle im Glauben an Christus gleichermaßen an diesem dreifachen Amt Christi teilhaben - während er kategorisch bestritt, daß in der öffentlichen Repräsentation der Kirche in ihrer Leitung "ein einziger Mensch der ganzen Kirche vorstehe" (hominum unum praeesse). Eine solche "Monarchie" sei schon in der bürgerlichen Welt "vollkommen absurd" (absurdissimum), aber in der Kirche ein "Riesenunrecht" (insignis iniuria) gegen Christus (4,6.9). Sondern in ihrer öffentlichen Repräsentation - zum konkreten Zeichen dafür, daß sie Christus als das alleinige Haupt der Kirche nicht ersetzen kann, aber wohl auch dafür, daß sie die Freiheit aller Christen zu und in der Teilhabe am dreifachen Amt Christi nicht verdrängen darf - müssen jene drei Funktionen in mehrere Hände gelegt werden. Dadurch wandelt sich jenes 'System' aber in bemerkenswerter Weise. Denn zum einen kann und soll die Ausübung jener drei Funktionen nun nicht mehr eigentlich als Ausübung von Gewalt verstanden werden. "Die Kirche hat nicht Macht, einen Zwang auszuüben (cogendi potestas), und soll sie auch nicht begehren (4,11.16). Zum anderen wandelt sich damit auch der inhaltliche Sinn jener drei Funktionen: Die Lehrgewalt zur Dogmen-Aufstellung wird zum Verkündigungsamt (samt der ihm zugeordneten Unterweisung), die Jurisdiktions-Gewalt wird zur Aufgabe der (vor allem seelsorgerlichen) Gemeindeaufsicht, damit "die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben" (14,12.1); und die priesterliche Gewalt wird zum fürsorgerlichen Dienst an den schwächsten dieser 'Glieder'36. So repräsentiert die Gemeindeleitung die Vielfalt des von Christus regierten Lebens seiner Gemeinde.

Daß die Kirche sich ihre Ordnung selbst gibt, daß diese Ordnung aber nach den jeweiligen Umständen variabel ist, und das erst recht, indem sie sich ja als eine mobile Pilgerschaft versteht, daß ihre Gestalt jedoch bestimmt sein muß einerseits durch die Gemeinschaft gegenseitig verbundener Glieder, andererseits durch die Freiheit der Glieder in Betätigung ihrer Teilhabe am dreifachen Amt Christi, daß schließlich die Gemeindeleitung durch eine Aufteilung in verschiedenen Funktionen charakterisiert sein soll - alle diese Erkenntnisse fließen in einer weiteren Entscheidung zusammen, die das Gesicht des Reformiertentums bis heute prägt und sich in seiner schwer 'unter einen Hut' zu bringenden Mannigfaltigkeit ausprägt. Diese ist keine zufällige, sondern eine absichtlich gewollte. Es zeigt sich ja in den eben genannten Erkenntnissen eine Sicht von Kirche, die sie zuerst und bevorzugt in einer konkret bei ihrer Verantwortung behaftbaren, darum lokal oder regional überblickbaren Schar erkennt. In der Tat betont Calvin, daß jede einzelne Gemeinde - nicht eine Filiale der Kirche ist, so daß 'die' Kirche oberhalb der Einzelkirche läge oder erst durch den Zusammenschluß mit anderen Einzelgemeinden zur Kirche würde; sondern "eine jede Gemeinde hat mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche inne" (4,1.9). Calvin folgert das aus der gemeinreformatorischen Erkenntnis, daß die Kirche da sichtbar ist, "wo Gottes Wort rein verkündigt und (!) gehört wird, wo wir die Sakramente nach der Einrichtung Christi austeilt sehen" (ebd.). Eben daraus zieht er die Konsequenz, daß die konkret an einem Ort versammelte Kirche im Vollsinn Kirche ist. Gewiß kennt er auch "die universale Kirche": die Gesamtheit der Kirchen, die, räumlich getrennt, in der Wahrheit der göttlichen Lehre und durch die gleiche Gottesverehrung verbunden sind (ebd.). Diese Kirchen können und sollen in freiem, geschwisterlichen Kontakt stehen. Sie können darüber hinaus auch gemeinsame Beschlüsse fassen, aber - und das ist hier das Entscheidende - das nur durch das Zusammentreten von Delegierten aus Pfarramt und Presbyterium der Einzelgemeinden. Die Zusammensetzung eines solchen Zusammentritts aus Delegierten ist darum wesentlich nötig, weil nur so im Blick auf für alle Einzelgemeinden verbindliche Beschlüsse der Grundsatz durchführbar ist, den Calvin 1559 mit Bedacht an die Spitze der von ihm für die Hugenottenkirche verfaßten "Discipline ecclesiastique" setzte und der ja die genaue rechtliche Anwendung der Erkenntnis ist, daß jede Einzelkirche im Vollsinn Kirche ist: "Erstens gilt, daß keine Kirche sich Vorherrschaft und Beherrschung gegenüber einer anderen anmaßen darf".37 Das ist im Kern das 'synodale Prinzip', in dem es zu überörtlichen Verbindlichkeiten nur auf dem Weg eben von 'Synoden' kommt, die 'von unten', von der Basis der einzelnen Ortsgemeinden beschickt sind. Hier ist die Wurzel für das typisch 'reformierte' Mißtrauen gegen alles 'Oben' zu sehen, gegen oberhalb der Gemeinden und außer ihrer Kontrolle sich bildende Machtzentren, die doch über sie befinden. Hier ist aber zugleich auch die Wurzel für die spezifisch 'reformierte' ökumenische Offenheit, weil man dabei ja doch mit Anderen verkehren kann, ohne Angst davor, von ihnen beherrscht werden zu müssen, aber auch ohne die Bedingung, daß die Anderen zuvor unter das eigene Dach gebracht werden müssen.38 Hierher gehört auch das eigentümliche Faktum, daß die reformierte Familie selbst zwar in verschiedenen Regionen mannigfache Bekenntnisse und Kirchenordnungen hervorgebracht hat, doch bis heute unter Verzicht auf ein sie im ganzen umfassendes reformiertes Bekenntnis und auf eine einheitliche Kirchenordnung. Wahrscheinlich hat das alte Reformiertentum an keinem Punkt unmittelbarer ein demokratisches Denken und Verfahren befruchtet als durch diese, zuletzt auf Calvin zurückgehende Konzeption von synodaler Gestaltung der Kirche und durch die dadurch geprägte Mentalität.

 

4. Das Verhältnis zum Staat

Es ist nach allem klar - und man muß das bei der Behandlung dieses Gebiets vor Augen haben: daß die Frage des Verhältnisses zum politischen Raum für Calvin nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Bedeutung eines Bei-Läufigen hat. Es scheine, so beginnt er seine Ausführungen in der Institutio dazu (4,20.1), diese Frage sogar gar nichts zu tun haben mit der "Unterweisung im geistlichen Glauben, die zu behandeln ich unternommen habe". Wenn es dennoch dazu eine "Nötigung" gebe, dann zunächst nur wegen zwei im Blick darauf drohenden Gefahren, die allerdings diesen Glauben so berühren, daß ohne Widerspruch gegen sie "die Reinheit des Glaubens (fidei sinceritas) zugrunde gehen würde". Die eine geht von Christen aus, die unter Berufung auf Gott den Staat verwerfen - und sich damit vielmehr gegen Gott wenden. Die andere geht von staatlichen Herrschern aus, die ihre Macht so maßlos ausüben, daß sie damit in ihrer anderer Weise "dem Regiment Gottes selbst widerstehen" (Dei ipsius imperio opponere). Weil damit, so oder so, letztlich die "Reinheit des Glaubens" auf dem Spiel steht, darum ist nun allerdings die "Unterweisung im geistlichen Glauben" herausgefordert, sich auch zu dieser ganzen Frage zu äußern. Calvin tut das, indem er einen Doppelseatz aufstellt und im Grunde nur ihn immer wieder durchdekliniert: einen, der jene den Glauben antastende Doppelgefahr gründlich ausräumen soll.

Zum ersten: Der Staat muß nicht anders sein, als er ist, damit Christen im Glauben Gott gehorsam sein können. Denn kein Staat, er mag sein und handeln, wie er will, kann sie ja an solchem Gehorsam hindern. Liest man Calvins in diesen Zusammenhang gehörigen Aussagen im Gefälle dieser Akzentuierung, dann ist von Anfang an klar, daß es dabei nicht um eine Legitimierung jedweden Staats geht, sondern um die vorrangige Sorge darum, daß Christen bei aller Beschäftigung auch mit dem Staat nicht ihre Christlichkeit verleugnen. Darum sollen sie selbst dann, wenn Staatslenker sich direkt gegen Gott stellen und damit auch ihren Gehorsam gegen Gott antasten, sich klar machen, "daß wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden, als von der Frömmigkeit zu weichen" (4,20.32). Insofern haben wir in diesem Gehorsam dann zu leiden und auch dann nicht etwa gegen den Staat zu kämpfen und einen anderen herzustellen, als wir auch angesichts und inmitten eines Staates, der ist, wie er in diesem Extremfall ist, keinen Grund haben, vom Glaubensgehorsam gegen Gott zu weichen. Gerade in diesem Gehorsam dürfen wir nicht sagen: Erst wenn die und die politischen Bedingungen erfüllt sind und der Staat so und so gestaltet sein wird, wird solcher Gehorsam möglich sein. Keine staatlichen Zustände stellen dem Glaubensgehorsam solche Bedingungen. Er wird weder durch bessere Zustände ermöglicht noch durch schlechtere verunmöglicht. In dem Sinn hebt Calvin hervor, "daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind" (4,20.1). In dem Sinn sagt er sogar das Provozierende: "Geistliche Freiheit kann mit politischer Knechtschaft bestens bestehen" (ebd.) - was doch nicht das Dogma einer generellen Verträglichkeit und Kombinierbarkeit von innerer Freiheit und äußerlicher Sklaverei aufstellt, sondern sagt, daß auch solche Knechtschaft uns nicht die geistliche Freiheit zu rauben vermag, die wir im Gehorsam gegen Gott haben. Verdanken wir diese Freiheit nicht politischer Liberalität, so kann sie politische Illiberalität auch nicht verbieten. Denn das haben wir zu beachten, daß der erste Teil in jenem Doppelsatz eigentümlich oszilliert. Einerseits hat er wohl einen nüchtern-pragmatischen Aspekt, der erlaubt und auffordert, sich auf die jeweils gegebenen "Umstände" einzustellen, statt sie mit müßigen Disputationen darüber zu überspringen, "was der angenehmste politische Zustand an dem Ort, an dem wir leben, sein würde" (4,20.8). Andererseits hat er zugleich aber auch einen fundamental kritischen Aspekt, weil er nicht abstrakt eine Gleichgültigkeit des Glaubens gegenüber der Politik statuiert (alles Folgende stünde ja dann im Widerspruch dazu), sondern weil er eben aufgrund der Unterscheidung des "geistlichen Reichs Christi" von allen politischen Ordnungen dem politischen 'status quo' keine religiöse Sanktionierung zuteil werden läßt, sondern sie ihm im Kern entzieht.

Zum anderen ist komplementär zum ersten nun der zweite Satz hinzuzufügen: Aber angesichts und inmitten des Staates gilt es für Christen, Gott zu gehorchen, und zwar immer Gott mehr als den Menschen. Das gilt nach Calvin auch und gerade dann, wenn der Satz normalerweise besagt, daß wir auch Menschen zu gehorchen, sprich: staatliche Autoritäten anzuerkennen und ihren Gesetzen nachzukommen haben. Normalerweise! Denn der Gehorsam gegen Gott schließt den Respekt gegen staatliche Autoritäten nicht aus, sondern begründet ihn sogar. Calvin kann erneut provozierend von deren Würde reden: Sie sind zu "Dienern (ministri) der göttlichen Gerechtigkeit" eingesetzt, zum "Werkzeug (organum) der göttlichen Wahrheit", ja, zu "Gottes Stellvertretern (vicari)" oder "Abgesandten (legati)" (4,20.6). Also nun doch eine religiöse Sanktionierung der "politischen Administration"? Aber Vorsicht! Ein ähnliches Oszillieren wie bei jenem ersten Satz zeigt sich auch in dem zweiten. Auf der einen Seite ist deren göttliche Einsetzung als göttliche Wohltat (beneficium) dankbar zu ehren (4,20.9). Denn es ist Gottes guter Wille, daß wir, solange wir "Pilgrime auf Erden" sind und darum zum Nutzen dieser Pilgrimschaft solcher Hilfsmittel (subsidiis) bedürfen, im Dasein der "politischen Administration" solches "subsiduum", d.h. Hilfsmittel, Beistand, Schutz von Gott gewährt bekommen. Darum würden wir, wenn wir dieses "Hilfsmittel" verweigern und das staatliche Regiment beseitigen wollten, die "Menschlichkeit" selbst ausrotten (4,20.2). Man mag darum kritisch gegen die faktische Ausübung dieses Regiments sein, wie man will, man darf auch darin staatliches Regiment nicht nicht haben wollen, will man nicht die göttliche Wohltat in dessen Einsetzung zu solchem "Hilfsmittel" verachten. Aber auf der anderen Seite gilt zugleich: Nicht schon damit, daß wir irgendeiner staatlichen Autorität gehorchen, gehorchen wir Gott. Sondern immer nur umgekehrt: Weil wir Gott gehorchen, darum auch ihr - aber ihr "allein in ihm (nonnisi in ipso)" (4,20.32). "Ach, wenn das doch stets von uns beachtet würde, ... daß alles auf die Autorität Gottes und seines Gebots hin zu geschehen hat! Wenn sie allem vorgeht, dann kann niemals der rechte Weg verfehlt werden." (4,20.10) Das bedeutet für die staatlichen Regenten selbst, daß sie, sofern sie um ihre Stellung als "Gottes Vikare" wissen, sich nicht darauf zur Rechtfertigung ihrer Willkür, geschweige ihrer Untaten berufen können, sondern daß sie darum umgekehrt zu einem menschlichen Höchstmaß an "Integrität, Vorsicht, Milde, Maßhalten, Unschuld" herausgefordert sind - im Wissen darum, daß ihre Untaten dann nicht nur Menschenschinderei, sondern Gottesschändung sind (4,20.6). Das bedeutet wiederum für die Regierten, daß sie nur eine begrenzte und keine absolute Folgepflicht gegenüber den Regenten haben - und die Kirche macht, indem sie ja die Magistraten als "Vikare Gottes" erkennt, keinen unbefugten Übergriff in das weltliche Regiment, wenn sie allgemein oder je in einem konkreten Fall die Grenze dieser Pflicht einschärft: "Wenn sie etwas gegen ihn (Gott) befehlen, dann ist dem nicht stattzugeben noch zählt es; und wir dürfen hier in keiner Weise auf die Würde, die dem Magistrat zukommt, Rücksicht nehmen" (4.20,32).

Jener umrissene Doppelsatz steht nun speziell hinter Calvins Anwendung einer Erkenntnis, die er, wie schon zuvor Zwingli39, von Plato und Aristoteles40 hier einfach übernehmen zu dürfen glaubte (4,20.8): Es gebe die drei Staatsformen: Königtum, Herrschaft der Besten (Aristokratie) und Volksherrschaft (Demokratie). Calvin knüpft daran seine persönliche Ansicht an, daß die zweite oder eine Mischung aus der zweiten und dritten Staatsform vorzuziehen sei, weil so die "Freiheit" des Volks eine gebührende "Lenkung" (moderatio) erfahre, ohne daß jedoch diese jene Freiheit "mindern", geschweige "verletzen" dürfe. Wichtiger für Calvin und, ich denke, sachlich weiterführender ist die Überlegung, daß jede dieser drei möglichen Staatsformen gemeingefährlich entarten könne: das Königtum zur Tyrannei, die Aristokratie zur Cliquenherrschaft, die Volksherrschaft zur sozialen Spaltung. Der Gedanke unterstreicht zunächst erneut den Satz, daß der Glaubensgehorsam in jeder Staatsform möglich ist, die nun einmal unter Gottes Vorsehung in den verschiedenen Regionen verschieden sein mag (ebd.). Der Gedanke entbirgt aber nun auch zugleich auch die in diesem Satz liegende kritische Kraft und treibt das Denken in die Richtung einer Einsicht, die, wie ich meine, der vornehmliche Beitrag Calvins zum Werden der modernen Demokratie ist: Er treibt dazu an, umso wachsamer das Augenmerk auf den - dann allerdings den Glaubensgehorsam herausfordernden - Punkt zu richten, wo die vorfindliche, erträgliche Staatsform zur unerträglichen Entartung wird: unerträglich, weil da die Wohltat Gottes in der Einsetzung des bürgerlichen Regiments pervertiert oder verleugnet wird, sei es durch seine Auflösung, sei es in seiner eigenen Absolutsetzung, sei es darum im Angriff auf die Gemeinschaft im Staat, sei es im Angriff auf die Freiheit in ihm.

Aber was ist in diesem Fall dann zu tun? Weil dabei letztlich die Wohltat Gottes in der Einsetzung der "politischen Administration" bestritten wird, darum hat dazu die Kirche durchaus etwas zu sagen. Zu sagen! Mehr als das Wort steht ihr dabei nicht zu Gebote, weil sie als Kirche keine Machtmittel hat noch haben darf (s.o.). Aber zu sagen hat sie dann ein ganz Konkretes. Zwar ist theoretisch der Staat in jeder Staatsform gefährdet. Aber dieses Theoretische soll ja praktisch dafür wachsam machen, daß der Staat dann also jederzeit durch Entartung bedroht sein kann; und die Kirche hat dann, wenn das in einer je bestimmten Weise der Fall ist, - nicht eine allgemeine Staatstheorie zu vertreten, sondern gegen diese bestimmte, jeweils besondere Gefahr ihr Wort zu erheben. Es war aber zumindest beim älteren Calvin so - und das hat sich dem Reformiertentum gewiß so sehr eingeprägt wie seine allgemeinen Ausführungen in "De politica administratione" - , daß er, der angebliche Verächter des 'Pöbels', faktisch den Staat eben nicht von 'unten' gefährdet sah, sondern aufs Bedrohlichste von 'oben', von den ihn Beherrschenden.

Namentlich sein Daniel-Kommentar von 156141 ist unter der Text-Auslegung eine flammende Anklagerede wider die monarchistische Tyrannei. Er ruft gegen sie wohl nicht zum politischen Aufstand auf. Er entwickelt kein politisches Gegenprogramm. Er hofft angesicht dessen nur auf Gott und seinen Christus, der König der Welt ist, und darauf, daß er wie Gebeugte erheben, so Mächtige nicht nur einsetzen, sondern sehr wohl auch stürzen kann (385f., 394). Aber in diesem Licht deckt er schonungslos auf: die Macht, das Schreckensregiment der Herrscher - sie, die "ihrer Wut die Zügel schießen lassen und meinen, sie dürften sich alles erlauben", nach der Devise: "Erlaubt ist, was gefällt", über deren Schwelle man nicht treten kann, ohne daß es "mit der Freiheit vorbei" ist (378). Sie, die, geblendet vom "Glanz ihrer Größe", dem "Größenwahn" verfallen sind (400). Sie, die damit doch vielen Eindruck machen, so daß diese "einfach nach des Königs Pfeife" tanzen; "was dem König gefällt, dem stimmen sie alle zu, wenn nötig, mit lautem Beifall" (409). Sie, die über alle "Untertanen frei verfügen", nicht, weil sie es dürften, aber "weil es sich alle schweigend gefallen lassen" (452)42. Sie, die die "Heiligen", die dabei nicht mitmachen, belasten und belästigen "mit der Anklage auf Undank und Aufruhr" (412); denn "nichts ist für die Könige schwerer zu ertragen als Verachtung ihrer Befehle" (413). Sie, die schließlich bei dem allem die Religion nicht missen mögen, sondern noch so gern zur Festigung ihrer Macht in ihren Dienst stellen, die darum "mit großem Aufwand Tempel bauen"; und wenn "man sie fragt, was für eine Absicht sie dabei leite, so erfolgt sofort die Antwort: das tun wir zur Ehre Gottes! Dabei suchen sie allein ihren eigenen Ruhm und ihre eigene Ehre" (405). Es ist für Calvin klar, daß der kirchliche Widerspruch gegen sie gerade an dem letzteren Punkt ansetzen und ihnen so die religiöse Stütze ihres Machtgefüges entreißen muß. Es mußte darüber hinaus denen, die diese - geradezu von einem Freiheitspathos getragene und zugleich das Funktionieren von Macht scharfsichtig analysierende - Kritik Calvins lasen43, auch klar sein, daß auch Calvins Auszeichnung der staatlichen Magistraten als Gottes 'Vikare' genau das: eine Machtkonzentration an der Staatsspitze, nicht meinte, sondern, rechtverstanden, sogar bestritt. Zudem ist deutlich: Gerade das Argument der Sünde, der "Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen" ist für Calvin kein Argument für den autoritären, mon-archischen Staat, sondern ein entscheidendes dafür, daß im Staat "mehrere das Steuerruder" zu halten haben (4,20.8).

Aber nun drängte die These von der möglichen Korrumpierbarkeit jeder Staatsform zu einer weiteren, jetzt direkt politischen Überlegung, die eine praktische Handhabe gegen deren Korruption ermöglicht. Demnach ist im Staatswesen dreierlei fundamental zu unterscheiden: der Magistrat44, die bürgerlichen Gesetze (leges), nach denen er regiert, und das Volk, das den Gesetzen und insofern auch dem Magistrat Folge zu leisten hat (4,20.3). Mit dieser Differenzierung unterscheidet sich Calvin von jener lutherischen Tradition, die die 'Obrigkeit' und den 'äußerlichen Gebrauch des Gesetzes' (singularisch!) so eng zusammensieht, daß die Obrigkeit kraft ihrer Macht, das 'zügellose' Volk an die Zügel zu nehmen, als solche schon das Gesetz (Gottes) äußerlich verkörpert. Es legte sich dabei nahe, den Sinn dieses "Gesetzes" (lex) wesentlich in seinem Zwangscharakter, in seiner Verbindung mit Gewaltausübung zu sehen. Daß Calvin die "Gesetze" (pluralisch!) als ein Eigenes, Drittes neben und gegenüber beiden, Magistrat und Volk, herausstellt, bedeutet eine entscheidende Weichenstellung, die in eine andere Richtung weist als jene Tradition. Diese Differenzierung hat zwei erhebliche Folgen.

Zum einen: Indem der Magistrat zwar gemäß (secundum) den "Gesetzen" zu handeln hat (ebd.), aber sein Handeln nicht mit den "Gesetzen" identisch ist, stellt sich die Aufgabe einer inhaltlichen Bestimmung der Gesetze. Denn noch nicht deren Form - daß sie zwingen - macht sie zu Gesetzen, mit denen sich ein bürgerliches Gemeinwesen regieren und ein erträgliches Zusammenleben in ihm organisieren läßt, sondern ihre Zweckmäßigkeit hat sich an ihrem Inhalt zu erweisen. Das setzt voraus, daß diese Gesetze (leges) nicht mit dem göttlichen Gesetz (lex) zusammenfallen, sondern menschliche, darum prinzipiell korrigible Festlegungen sind, Versuche, diesem göttlichen Gesetz zu entsprechen. Aber eben, es kann dabei nicht genug sein, sie nur oder auch nur zuerst auf ihren formalen, negativen Charakter hin zu beachten, so daß in der Konsequenz entweder die Gesetze, gleich was sie gebieten, hinreichend sind, wenn sie nur von menschlicher Zügellosigkeit abschrecken, oder die Gesetze gar umso 'besser' sind, je mehr sie abschreckend sind. Darum kommt es bei diesen Festlegungen oder Versuchen vielmehr darauf an, ihren positiven, der menschlichen Gemeinschaft zuträglichen Sinn herauszustellen. Sie sind ja "die kräftigsten Nerven des Gemeinwesens" (4,20.16) und sind darum so gut, wie sie denn auch tatsächlich dem Zusammenleben seiner Glieder dienlich sind, "dem Gemeinwohl und öffentlichen Frieden" (communi omnium saluti ac paci, 4,20.9). Der Grundbegriff, nach dem die bürgerlichen Gesetze festzulegen sind und an dem sie sich messen zu lassen haben, ist für Calvin schlicht der der "aequitas", das Tun dessen, was "recht und billig" ist (4,20.16), man könnte auch sagen: die nach der "ewigen Richtschnur der Gerechtigkeit" gebildete menschliche Gerechtigkeit (4,20.15). Diese ist für Calvin nach zwei Seiten geltend zu machen: so, "daß unter den Christen (!) eine öffentliche Gestalt des Gottesdienstes existiert und daß unter den Menschen (!) die Menschlichkeit (humanitas) Bestand hat" (4,20.3). Dabei bemißt sich die "Menschlichkeit" in der Bürgerschaft konkret daran: "daß den Armen und Bedürftigen das Recht zurückgegeben wird" und sie "der Hand des Unterdrückers entrissen werden" (4,20.9). Gerade in diesem Zusammenhang versteht Calvin auch den guten Sinn der dem Staat verliehenen "Gewalt": Er ist damit "gewappnet", damit seine Repräsentanten "die guten Leute vor den Ungerechtigkeiten der Bösen schützen und den Unterdrückten mit Hilfe und Schutz beistehen" (ebd.). Die Gewalt gehört also nicht zum Wesen der staatlichen Gesetze und deren politischer Handhabung, sondern ist dem Magistrat nur zu der bestimmten, aber begrenzten Funktion bei der Durchsetzung der "Gesetze" verliehen: um illegitime, vergewaltigende Gewalt einzuschränken. So leuchtet ein, daß ein Verzicht auf solche legitime staatliche Gewalt, gerade weil nicht "Härte" (asperitas), sondern "Milde" (clementia), also Humanität das Handeln des Magistrats auszeichnen soll, eine "höchst grausame Humanität (crudelissima humanitas)" wäre (4,20.10).

Zum anderen - und an diesem für unser Thema entscheidenden Punkt laufen nun die zuvor gezeigten Linien zusammen: Wenn es denn so ist, daß ein bürgerliches Gemeinwesen faktisch am meisten von einer Machtkonzentration an seiner Spitze, von den Herrschenden bedroht ist und wenn diese Bedrohung darin besteht, daß "die Freiheit, zu deren Beschützern sie doch eingesetzt sind", vermindert oder gar verletzt wird (4,20.8), - wenn es ferner so ist, daß das in den "Gesetzen" verkörperte Recht als ein Drittes nicht nur über dem Volk, sondern auch über den Regenten steht, - und wenn es schließlich so ist, daß diese Gesetze an einem bestimmten, positiven Inhalt allgemein erkennbar sind und daß auch die staatliche Macht nicht an sich ein Recht auf Gewaltausübung hat, sondern nur ein klar bestimmtes, begrenztes Recht zur Gewaltverhinderung (Schutz der Schwachen vor den Starken), dann drängt sich unerbittlich die Frage einer Kontrolle aller Macht im Staat auf. Und zwar geht es nicht nur um eine Kontrolle des Volks durch den Magistrat und nicht nur um eine staatliche Kontrolle der Mächtigen in deren Verhalten zu den Schwachen im Staat, sondern auch um eine Kontrolle des die legitime Gewalt im Staat ausübenden Regiments selbst. Indem diese Konzeption einen solchen Rechtsstaat meint, in dem nach inhaltlich klar umrissenen, von allen erkennbaren 'humanen' Gesetzen regiert wird, öffnet sie faktisch der bürgerlichen Mündigkeit die Möglichkeit, die Übereinstimmung des Regierungshandelns mit den staatlichen Gesetzen zu überprüfen. Sie weist damit in die Richtung der Demokratie, in der eben das Volk jene Kontrolle ausübt, mit dem legitimen Recht, Regierungen abzusetzen und darum dann ja auch einzusetzen. Calvin hat diese Konsequenz noch nicht gezogen45, sondern sich damit begnügt, angesichts jener sich doch schon ihm unerbittlich aufdrängenden Frage eine Lösung vorzuschlagen, die in den damaligen Umständen als angemessen erscheinen konnte, obwohl sie uns heute nur als eine Zwischenlösung erscheinen mag. Er meinte, daß "plures" (Mehrere, Verschiedene, Viele) das Staatsruder steuern sollten und daß so genügend "verschiedene Aufpasser und Aufseher" (plures censores ac magistri) da seien, um die Willkür eines unter ihnen im Zaum zu halten, der sich mehr als rechtens erhebt (4,20.8).

Daß er dabei aber jedenfalls das Problem der Kontrolle der Regentenmacht klar vor Augen hatte, wird dadurch bestätigt, daß er sich nun auch Gedanken über eine Frage machen mußte, deren positive Beantwortung in besonderem Maß zur Brunnenstube moderner Demokratie wurde: über die Frage des Widerstandsrechts gegen ein unerträgliches Regiment, das die "Freiheit des Volkes", die kirchliche Gottesverehrung, die Ausübung des Rechts, den Schutz der Armen vor den Schwachen mit Füßen tritt (vgl. 4,20.29). Man hat zurecht bemerkt, daß Calvin sich an diesem Punkt zögerlich äußerte, eher nur in einer "Randbemerkung"46. Richtig ist aber auch, daß es von all den genannten Voraussetzungen her nur konsequent war, daß er sich dieser Frage stellte. Zwar hat er hier nicht mehr gesagt, als in seiner Zeit hier rechtlich möglich war. Aber er hat hier nicht nur in einer Art Konzession eine gegebene Rechtsmöglichkeit erwähnt, sondern hat auf diese Bezug genommen im Rahmen eines sich aus dem Zusammenhang seines ganzen Denkens grundsätzlich und notwendig aufwerfendes Problem: das der Kontrolle staatlicher Macht.

Seine Zögerlichkeit erklärt sich aus zwei beachtlichen Gründen, die beide einschärfen, daß solch ein Widerstand selbst ein legitimer, ein Rechtsakt sein müsse und keinesfalls in einem Rechtsvakuum als Ausbruch beliebiger Willkür stattfinden dürfe. Zum einen steht hinter dem bürgerlichen Regiment ja die göttliche Einsetzung; darum haben wir angesichts eines unrechten Regiments zuerst auf Gott und nicht auf unseren 'Arm' das Vertrauen zu sehen - auf den Gott, der nicht jedes Regiment stützt, aber auf ihn, weil zuerst er es ist, "der die Könige einsetzt und absetzt"47, aber wirklich auch absetzt, doch so, daß es dann keine Eigenmächtigkeit ist, wenn von ihm berufene "öffentliche Erretter" auftreten, "um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das ... unterdrückte Volk zu befreien."48 Zum anderen entspricht diesem göttlichen Recht auch ein menschliches Recht zum Widerstand gegen ein unrechtes Regiment oder zu seiner Absetzung, aber ein Recht, das darum nicht auf eigene Faust zu betätigen ist, sondern von dazu Berechtigten49 - und das hieß für Calvin damals, "wie die Dinge heute liegen": von den jeweils untergeordneten politischen Behörden. Doch haben die nicht nur ein Recht, gegen das "maßlose Wüten und Schinden der kleinen Leute" (4,20.31) einzuschreiten, sondern sogar die Pflicht dazu, wenn sie nicht Betrug an der "Freiheit des Volks" (populi libertas) begehen wollen. Wenn hierbei, 'wie die Dinge damals lagen', nicht alle Einzelnen aktiv werden konnten, damit nämlich im Aufstand gegen das unerträgliche Regiment das Recht gewahrt bleibe, so bedeutet das nach Calvin indes nicht, daß sie bloß 'passiv' bleiben dürften; sie haben dann ungerechten Befehlen einer ungerechten 'Obrigkeit' den Gehorsam zu verweigern, koste es, was es wolle (4,20.32).

Calvin hat auch diese kritische Gestalt der Kontrolle des Magistrats gewiß nicht im Rahmen einer Demokratie, sondern der damaligen ständischen Gestalt des Staates durchdacht. Aber indem er ihren Rechtscharakter herausstellte, indem er die Zuständigkeit für deren rechtliche Ausübung der jeweils 'unteren' bürgerlich verantwortlichen Ebene zusprach und indem er die "Freiheit des Volks" dabei als Kriterium für das Recht eines Widerstandes und 'Regierungswechsels' einbrachte, hat er doch eine Bewegung angestoßen, in der, in Befreiung von einer Untertanenmentalität, dieses Volk sich eines Tages seines Rechts bewußt wurde und dessen, daß sich die Verantwortung und Rechenschaftspflicht eines Regiments vor Gott und vor dem Volk nicht einander ausschließen.

 

5. Zusammenfassende Bemerkungen

Es geht nach allem Dargelegten nicht, zu behaupten, daß Calvin Vertreter einer modernen Demokratie war. Das wäre nicht nur ein Anachronismus. Das widerspräche auch seiner - mit seinem Verständnis von dem uns nötigen Gehorsam gegen Gott zusammenhängenden - Auffassung, es gelte in einer konkreten Situation: nicht sich einen idealen Staat auszudenken, sondern sich in jenem "freien Gehorsam" gegen Gott praktisch zu dem Staat in seinen jetzt gegebenen Zuständen zu verhalten, der damals nun eben noch keine 'Demokratie' war. Es geht aber auch nicht, Calvin zu unterstellen, daß er von seiner Erkenntnis von der Souveränität Gottes und dessen Anspruch auf unseren Gehorsam gegen ihn her gar kein Demokrat hätte sein können. Wir sahen ja, daß sich bei ihm Linien zeigen lassen, die nun doch gerade in diese Richtung weisen.50 Und wir sahen, daß diese Linien auf den Punkt zurückverweisen, an dem gerade sein Verständnis von der Souveränität Gottes ein relatives Erwägen der 'irdischen' Dinge und ihrer Ordnung zuläßt. Darum werden nicht zufällig die in Richtung demokratischen Denkens und Handelns weisenden Linien verhältnismäßig deutlicher in seinen Gedanken zur Gestaltung der Kirche. Hier haben sich Erkenntnisse und Praktiken gebündelt, an denen man sich eines Tages auch im profan-staatlichen Bereich ein Beispiel nehmen konnte. Wie die Lehre von der Teilhabe aller Christusgläubigen am dreifachen Amt Christi die Erkenntnis der mündigen Verantwortlichkeit aller stärkte und einmal in ein förmliches Mitspracherecht aller Beteiligten münden mußte, so konnte wiederum die Lehre von der nötigen Aufteilung der kirchenleitenden Ämter nach verschiedenen Funktionen den für die Demokratie unentbehrlichen Gedanken der Gewaltenteilung 'vorbereiten'. Schließlich hat das 'synodale Prinzip', nach dem überregional verbindliche Entscheidungen keine Einzelgemeinde beherrschen dürfen und darum nur durch gemeinsame Beratungen und Beschlüsse von 'von unten' beschickten Delegierten zustande kommen dürfen, den parlamentarischen Gedanken angekündigt. Hinsichtlich des bürgerlichen Gemeinwesens aber war es einerseits die Kritik an Machtkonzentrationen an deren Spitze, andererseits die These von der Eigenständigkeit des Rechts und der inhaltlich umschriebenen Gesetze gegenüber dem Volk und seiner Regierung, die die Erkenntnis von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer rechtlich gesicherten Kontrolle des Regiments eröffneten und in eine 'demokratische' Zukunft wiesen. In Berücksichtigung all dessen werden sich Antidemkraten fairerweise auf Calvin nicht berufen können.

Es wäre aber nun nicht genug, wenn wir hier nur feststellen wollten, ob er in dieser Sache vor rund 550 Jahren schon so weit war, wie wir es heute sind. Das wäre gleichsam ein ungleicher Kampf, bei dem der Sieger schon vorher feststünde. Und das wäre darum ein unfruchtbares Verfahren, weil wir dabei zwar vielleicht einer unserer historischen Wurzeln bewußt, aber am Ende doch nichts lernen würden. Fruchtbar wird es erst, wenn wir uns hier auch umgekehrt von Calvin befragen lassen. Aus dem Dargestellten werden ja auch tatsächlich Fragen an unsere heutige Adresse laut, von denen zuletzt drei formuliert seien.

1. Hinsichtlich der theologischen Grundlegung: Lebt nicht unser Ja zur 'Demokratie' heimlich oder offen von dem genannten, gegen Calvin geltend gemachten Grundsatz, daß dem Menschen nur soviel Freiheit, dem Volk nur soviel Souveränität zugesprochen werden könne, wie sie der Freiheit Gottes abgesprochen und wie seine Souveränität eingeschränkt, 'relativiert' wird? Des Einspruchs Calvins werden wir uns dann gewiß sein können; und dieser Einspruch wird sich dann vor allem in der Frage verdichten, ob wir in Vertretung dieses Grundsatzes nicht teils 'politisch', teils theologisch denken und darum wahrscheinlich in Wahrheit zuerst in einem 'bürgerlichen' Rahmen, um dann darin unsere Theologie einzuzeichnen. Während Calvin darin sein Stärke hatte, daß er zuerst Theologe sein und das bei allem Weiteren nicht vergessen wollte! So wird sein Einspruch Gewicht haben, auch dann, wenn wir nachweisen können, daß er selbst die Freiheit Gottes und die des Menschen gedanklich nicht angemessen in Einklang zu bringen wußte. Sein Einspruch wird uns daran erinnern, daß unser christliches Ja zur Demokratie theologisch ein gebrochenes ist, wenn es dadurch erkauft ist, daß wir die Freiheit des Menschen groß machen auf Kosten der Anerkennung der Freiheit Gottes, wenn es nicht vielmehr gelingt, in Gottes 'Souveränität' und im 'Gehorsam' gegen ihn die unsrige, menschliche Freiheit begründet zu erkennen.

2. Hinsichtlich des Verständnisses der Kirche und ihrer Gestalt: Hält sich nicht in unseren Kirchen trotz ihrer (mehr oder weniger) 'demokratischen' Ordnungen ein Denken und eine Praxis, die dermaßen 'amtszentriert', auf die einzelnen Pfarramtsinhaber ausgerichtet ist, daß die durchschnittlichen 'Laien' dadurch als wirkliche Laien und also unmündig gehalten werden und faktisch nur die Funktion haben, bei 'Bedürfnis' und zu dessen Befriedigung eine pfarramtliche Leistung abrufen zu können? Auch hier werden wir Calvins Einspruch zu hören haben - und der wird zuerst nicht einmal lauten, es solle 'demokratischer' in der Kirche zugehen, sondern so, daß anscheinend in einer so funktionierenden Kirche nicht ernstgenommen ist, daß es in ihr in Wahrheit nur einen einzigen 'Amtsträger' gebe, ihr Haupt Jesus Christus. Würde das ernstgenommen, dann würde das sich ja darin beweisen, daß es in ihr eben keine weiteren Amtsträger gibt und keine Zentrierungen auf sie, aber daß statt dessen alle Gläubigen voll und aktiv teilhaben an der dreifachen Gestalt des Amtes Jesu Christi. Mag Calvin dem praktisch selbst wenig genug Rechnung zu tragen gewußt haben, auch, gerade dann werden wir zu lernen haben, daß wir erst dann eine echt geistlich 'demokratische' Kirche sind, wenn wir theoretisch und praktisch Platzanweisungen zur Ausübung von Mündigkeit und Mitsprache aller Christen und so zum Vollzug dessen angeben können, was er doch schon in seinem Katechismus schrieb: Christ sei nur, wer sich auch als Christ bekenne.51

3. Hinsichtlich der Handhabung unserer politischen Demokratie: Steht sie nicht bei uns in Gefahr ihrer Reduktion auf die bloße jeweilige Beschaffung und Feststellung einer Mehrheit, die ohnehin noch durch eine gesteigerte Medienmacht mehr und mehr manipuliert werden könnten? Calvins Einspruch würde dagegen sein Argument geltend machen, daß auch diese Staatsform korrumpierbar ist. Sie ist es darum, weil auch eine solche formal ordentliche Demokratie noch keine Erfüllung des inhaltlichen 'humanen' Sinns der 'Gesetze' garantiert und nicht automatisch für die Gemeinschaft im Staat und für die Freiheit ihrer Glieder sorgt.52 Ob hier in rechter Weise zugleich für Gemeinschaft und Freiheit gesorgt wird, zeigt sich aber an keinem Punkt klarer als an dem, ob hier die Schwachen vor den Starken geschützt werden. Das Ziel der Demokratie ist noch ja nicht die Feststellung der Mehrheit; sondern damit fängt sie erst recht an, indem sie sich nun im Umgang der Mehrheit mit der Minderheit zu bewähren hat. Genauer noch: Die Mehrheit des Volkes und deren Feststellung hat in der echten Demokratie ihre klare Grenze am Recht und so speziell am Schutz der Minderheit durch das Recht.53 Unter der jeweils überstimmten kann ja immer speziell die Minderheit zu kurz kommen, die sich in einer Gesellschaft jeweils am äußersten oder untersten Rand befindet, mit deren Überstimmung Wahrheiten - und Menschen unterdrückt werden können. Daß gerade dieser Minderheit Gerechtigkeit widerfahre, daran wird sich für solche, die von Calvin gelernt haben, die Güte der Demokratie bemessen. Denn "wahre Gerechtigkeit besteht in der Barmherzigkeit gegen die Elenden."54

Eberhard Busch, Göttingen

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1 Eine Übersicht dazu bei J. Staedtke, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: ders., Reformation und Zeugnis der Kirche. Ges. Studien, hg. von D. Blaufuß, Zürich 1978, 281-304. Einen Überblick über die Forschung geben: R.M. Kingdon/ R.D. Linder (ed.), Calvin and Calvinism; source of democracy?, Lexington, Mass., 1970; und: H. Vahle, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 66 (1975), S. 182-212.

2 Um dafür zwei Belege von in dieser Beziehung gerade nicht 'Extremen' zu geben: H. Lilje, Theologische Existenz und kirchliches Handeln, in: Junge Kirche, 1 (1933), S. 145f.: "Die große Aufgabe, die heute der Kirche anbefohlen ist: sie soll dem Staate sagen, was Staat und Obrigkeit ist. Nur sie kann es tun, denn nur sie weiß von dem eigentlichen Wesen des Menschen, und die alte verfehlte Überzeugung, daß der Mensch gut sei, die dem überlieferten Staatsgedanken zugrunde lag" - L. denkt wohl speziell an die Weimarer Demokratie -, "kann nur durch die echte Erkenntnis vom Wesen des Menschen, wie sie in den Bekenntnissen der Kirche enthalten ist, überwunden werden": Ist der Mensch Sünder, dann muß der Staat "Obrigkeit" sein, "Gottes Ordnung einer sündigen Wirklichkeit, 'zu Zucht und Buße gegeben'". Nach D. Bonhoeffer, Ethik, 4. Aufl., München 1958, ist es nicht zufällig "auf dem europäischen Kontinent niemals gelungen, eine Demokratie christlich zu begründen", i.U. zu den angelsächsischen Ländern, mit "dem Calvinismus entstammenden Gedanken" (43). Denn auch nach B. ist christlich vielmehr zu sagen: "Wo es nicht mehr gewagt wird, oben zu sein, und wo man es nicht mehr 'nötig zu haben glaubt', unten zu sein, wo das Obensein seine Begründung nur von unten her sucht - also wo der Vater seine Autorität aus dem Vertrauen der Kinder oder die Obrigkeit die ihre aus ihrer Popularität (!) herleitet -, und wo dementsprechend im Untensein ... der Sprengstoff für alles Obensein gesehen wird, ... dort bricht schon das ethische Chaos herein" (213). "Die echte Ordnung des Oben und Unten lebt aus dem Glauben an den Auftrag von 'Oben' ... Dieser Glaube allein bannt die dämonischen Gewalten, die von unten her aufsteigen" (225). Darum ist "ein recht verstandenes Gottesgnadentum der Obrigkeit" die "relativ beste" Staatsform, weil in ihr "am deutlichsten" wird, "daß die Obrigkeit von oben, von Gott her ist" (275). Vermutlich wurde mit aufgrund der Prägung durch solche theologische Argumente - nach der These von A. und M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967 - dann auch im Nachkriegsdeutschland die Demokratie zunächst eher nur als eine von außen her auferlegte Verordnung 'gehorsam' entgegengenommen als selbst erstrebt.

3 Vgl. O. Weber, Art. Calvinismus, in EKL I (1.Aufl.), Sp. 658f.

4 So E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912, S. 702; vgl. ebd., S. 703: "So ist der Calvinismus diejenige Form des Christentums geworden, die heute mit der modernen Demokratisierung innerlich verwachsen ist und ohne jeden Schaden an seiner religiösen Idee auf sie eingehen kann."

5 Z.B. Troeltsch, aaO S. 683; J.N. Figgis, Studies of Political Thought from Gerson to Grotius 1414-1625, 1907, S. 106; C. Mercier, L'esprit de Calvin et la Démocratie, in: Revue d'histoire ecclésiastique 30 (1934), S. 5-53.

6 Z.B. P. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au XVIe Siècle, 3. Ed., Paris 1969, S. 309ff. Besonders stark erkennt W.S. Hudson, Democratic Freedom and Religious Faith in the Reformed Tradition, in: Church History 15 (1946), S. 177-194, in Calvins Denken "the potential basis of democratic ideas" (S. 179).

7 Troeltsch, aaO S. 671.

8 J.T. McNeill, The Democratic Element in Calvin's Thought, in: Church History 18 (1949), S. 169.

9 So J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1937, S. 129. Dem Sinn nach ähnlich schon E. Stähelin. Leben und ausgewählte Schriften, Bd. 1, Elberfeld 1863, S. 346. Nach J.W. Allen, A History of Political Thought in the Sixteenth Century, London 1928, S. 66 besteht das Demokratische in Calvins Aristokratie sogar nur in einem bloßen Inkaufnehmen von demokratischen Zügen der vorgefundenen Genfer Verfassung.

10 Troeltsch, aaO (Anm. 4),S. 683f., 687.

11 Vahle, aaO (Anm. 1), S. 197. G.L. Pinette, Freedom in Huguenot Doctrine, in: Archiv f. Ref.gesch. 50 (1959), S. 202f. meint hingegen, daß die Furcht vor der demokratisierenden Wirkung der Reformation Calvins unbegründet gewesen sei - mit dem phantastischen Argument, daß damals kein König in Europa soviel politische Macht besessen habe wie Calvin in seinem Staat, wogegen einiges zu bemerken wäre, vgl. E.W. Monter, Calvin's Geneva, u.a. New York 1967, S. 144.

12 W.S. Stankiewicz, Politics and Religion in Seventeenth-Century France. A Study of Political Ideas from the Monarchomachs to Bayle, as Reflected in the Controversy, Berkeley-Los Angeles 1960, S. 11.

13 J.W. Allen, aaO (Anm. 9), S. 56.

14 Die im obigen Text im folgenden in Klammern gesetzten Zahlen verweisen jeweils auf die Abschnitte in Calvins Institutio christianae religionis. Eben in 4, 20.1 erklärt er: "Vor allem" (principio) dürften wir beides nicht "vermischen", da es sich dabei um "höchst unterschiedliche" Dinge (plurimum seposita) handle. Das Überdeutliche dieser an sich sachlich unaufgebbaren gemeinreformatorischen Unterscheidung von beidem, das sich bei allen Reformatoren findet, ergab sich aus der Apologetik gegen den antireformatorischen Einwand, die Reformation bedeute Aufruhr, weshalb die "Obrigkeit" gegen sie einzuschreiten habe.

15 So K. Barth, Die Theologie Calvins 1922, hg. von H. Scholl, Zürich 1993, S. 293. Vgl. auch H.H. Eßer, Demokratie und Kirche (am Beispiel Calvins), in: Zs. f. Religionspädagogik 26 (1971), bes. S. 333.

16 M.-E. Chenevière, La Pensée Politique de Calvin, Genève/ Paris 1937, 10.

17 Vahle, aaO (Anm.1), 205.

18 Ich halte es nicht für sinnvoll, wie es in der Literatur zu unserem Thema oft der Fall ist, gerade in diesem Zusammenhang Calvins Prädestinationslehre als seine Zentralerkenntnis hervorzuheben. Es ist zwar richtig, daß er, der mehr als Luther im humanistischen Umfeld lebte, aufgrund des von dieser Seite her erhobenen Einwands der "Willensfreiheit" des Menschen in einige erbitterte Auseinandersetzungen um diese Lehre verwickelt wurde. Aber angesichts der Art, in der Calvin in seiner Institutio diese Lehre als einen unter vielen Aspekten der "Heilszueignung" behandelt, kann man sie unmöglich als seine Zentrallehre ausgeben. Sie ist gewiß für ihn charakteristisch, aber doch darum, weil er an ihr durchdekliniert, was man eben die "Souveränität Gottes" nennen könnte.

19 Vgl. z.B. sein "Mahnschreiben" an Karl V., bei: M. Simon (hg.), Um Gottes Ehre! Vier kleinere Schriften Calvins, München 1924, S. 170.

20 Das Anliegen dabei ist offenbar, beides, Gottes Freiheit und Gottes Liebe nicht so zu identifizieren, daß dabei faktisch einer dieser Begriffe auf der Strecke bleibt. Dadurch entsteht freilich in Calvins die "nominalistische" Gefahr, daß Gott in seiner Freiheit zu anderem fähig ist, als er in seiner Liebe tut. Der drohenden Annahme, daß Gottes Freiheit dann Willkür (potentia absoluta) sei, hält Calvin entgegen, daß Gott auch in seiner Freiheit - sonst stünde sie ja nicht nur in Spannung, sondern im Gegensatz zu seiner Liebe - nicht bindungs- und hemmungslos ist: Non deus ex legis, quia sibi ipsi lex est, und so ist er legium omnium lex (3,23.2). So unterscheidet er sich vom Menschen. Nur als der vom Menschen Unterschiedene, doch darin ganz Gerechte ist es Gott, der den Menschen liebt.

21 So in Calvins Genfer Katechismus, bei: Simon, aaO S. 140.

22 Calvin faßt diesen Aspekt nicht immer in dieser Präzisheit und doch sagt er in Inst. 4,20.3, es gehe hier um constituendae religionis cura, um den Rechtsschutz für die äußere Gestalt des kirchlichen Gottesdienstes.

23 Vgl. H. Zwingli, Eine kurtze und christenliche Inleitung, in: Zwingli Hauptschriften Bd. 1, Zürich 1940, S. 274ff.: Es gebe zwei Erlösungen vom Gesetz: von seiner Anklage und von Menschensatzungen; ferner: Heidelberger Katechismus, Fr. 91.

24 Vgl. in: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd.11, Die Apostelgeschichte, übers. von K. Müller, Neukirchen 0.J., S. 106f. zu Apg. 5,29: "Nur so weit also haben wir Rücksicht auf die Vorgesetzten zu nehmen, als Gottes Oberherrschaft dadurch nicht verletzt wird ... Sobald Vorgesetzte uns vom Gehorsam gegen Gott abbringen, beginnen sie ... Krieg mit Gott; so muß man sie in Schranken halten, damit Gott mit seiner Autorität allein groß sei."

25 Nach K. Barths interessanter Deutung (Theologie Calvins, 276) relativiert Calvin darum konsequenterweise auch alle theologischen Programme, auch sein eigenes zu einer 'richtigen' und sei es dem Evangelium konformen "Lebens- und Weltgestaltung" - in der Erkenntnis, "daß jenes letzte Wort: Tu dies und laß jenes! freilich gesprochen werden muß (dieses 'muß' ist spezifisch reformiert!), daß es aber nur von Gott selber als sein eigenes Wort gesprochen werden kann (wenn die reformierte Theologie mit ihrer Richtung auf die Ethik daran etwas ändern wollte, dann wäre sie der Abfall von der Reformation!). Wer von einem Unterricht in der christlichen Religion ein Programm oder auch nur ein System von Weisungen erwartet, ... der darf sich nicht an Calvin wenden." Ist das richtig gesehen, dann heißt das, daß auch der strikteste Gehorsam gegenüber Gottes Anspruch nicht zu einer Ineinssetzung von Gottes Willen und unserem Wollen führen darf. Mein Gehorsam ist nicht Gottes Wille; er kann dem ihm immer vorangehenden Willen Gottes nur folgen. Er ist als solcher immer nur ein (relativer) Versuch, Gott zu gehorchen.

26 Genfer Katechismus, nach: hg. von W. Niesel, Bekenntnisschriften und Kirchenordnung der nach Gottes Wort reformierten Kirche, Zürich 1938, S.7,Z.21; vgl. Heidelb. Katechismus, Frage 32.

27 Wenn es freilich im Staatsleben solchen erzwungenen Gehorsam gibt, so ist das nicht die Normalgestalt, sondern eine Fremdgestalt von Gehorsam, vgl. 2,7.10.

28 So auch M. Geiger, Kirche, Staat, Widerstand. Historische Durchgänge und aktuelle Standortbestimmung, ThSt 124, Zürich 1978 , S. 18f.

29 Vgl. Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, hg. u. übers. von R. Schwarz, Neukirchen 1961, S. 231: Calvins Kritik am Berner Staatskirchentum, in dem es drohe, daß man werde "reden oder schweigen müssen, je nachdem sie" - die Magistraten - "mit dem Finger winken."

30 E. Wolf, Theologie und Sozialordnung bei Calvin, in: Archiv f. Reformationsgeschichte 42 (1951), S. 20.

31 Man verweist hier besonders darauf hin, daß nach der Genfer Kirchenordnung von 1561 (bei Niesel, aaO - vgl. Anm. 26 -, S. 44) die Gemeinde an der Pfarrerwahl nicht durch eine förmliche Wahl, sondern nur "par consentement commun" beteiligt war.

32 Genfer Katechismus, bei: Niesel, aaO S. 7; Inst. 2,15.2.4.6.

33 K. Barth, Die Theologie und die Kirche. Ges. Vortr. Bd. 2, München 1928, S. 82.

34 R. Schwarz, Calvins Lebenswerk, aaO (Anm. 29), S. 916.

35 Es ließe sich immerhin fragen, ob die unlöslich zur modernen Demokratie gehörende Gewaltenteilung - Legislative, Exekutive, Jurisdiktive - nicht in dem dreifachen Amt der Gemeindeleitung in der auf Calvin zurückgehenden typisch reformierten Tradition ihren Vorläufer hatte.

36 Beachtlich ist nicht nur, daß Calvin das als eine eigene Funktion kirchlicher Verantwortung wahrgenommen hat, und nicht nur, daß er gerade das als die einzig der Kirche noch übrigbleibende Entsprechung zu dem unwiederholbar einmaligen Priestertum Christi verstanden hat, sondern auch, daß er gerade dieser Fürsorge-Aufgabe dann überhaupt die Verwaltung der kirchlichen Gelder zugeordnet hat.

37 Niesel, aaO (Anm. 26),S. 75: "Premierement, que nulle Eglise ne pourra pretendre principauté ou domination sur l'autre." Den Satz übernahm dann in zugespitzter Form auch die "belgische" (niederländische) Kirche noch während des niederländischen Freiheitskampfs gegen die autoritäre spanische Macht im ersten Satz ihrer 1571 in Emden beschlossenen Kirchenordnung: "Nulla Ecclesia in alias, nullus Minister in Ministros, Senior in Seniores, Diaconus in Diaconos primatum seu dominatum obtinebat, sed potius ab omni et suspicione et occasione sibi cauebit" (Niesel, S. 279).

38 Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang, daß sich in der Mitte des 16. Jh. auf dieser Linie in Ostfriesland, vielleicht einmalig im Reformations-Zeitalter, sogar ein förmlich ökumenisches Verfahren ausbildete. Vgl. J. Weerda, Nach Gottes Wort reformierte Kirche, TB 23, München 1964, S. 76ff., bes. 115f. Demnach verband dort der Reformator J. Laski reformierte und lutherische Pastoren im selben Prediger-"Coetus" auf der Basis eines Bekenntnisses, in dem Gemeinsames und Trennendes genannt war, wobei das erstere verstanden war als Grund für die Verbundenheit trotz des Trennenden und letzteres als die gemeinsam noch zu bearbeitende Aufgabe. - Für ein Reformiertentum, das auf den obigen Linien denken würde, ergäbe sich übrigens ein klares Konzept bei den heutigen Diskussionen um "Europa": eine kooperative Offenheit für Europa und über Europa hinaus bei gleichzeitiger Ablehnung eines Zentralismus zugunsten einer Föderation übersichtlicher, eigenverantwortlicher "kleiner Einheiten"

39 H. Zwingli, Erklärung des christlichen Glaubens (Expositio fidei), in: Zwingli, Hauptschriften, Bd. 11, Zürich 1948, S. 334f.; ferner: Huldrych Zwinglis Vorrede zu seinen Jesaja-Erläuterungen, in: Hg. von O. Farner, Aus Zwinglis Predigten zu Jesaja und Jeremia, Zürich 1957, S. 295-308.

40 Vgl. Plato, Nomoi, 4. Buch, 16. Kapitel; vor allem Aristoteles, Politik, 3. Buch, 8. Kapitel, der schon genau das von Calvin oben Ausgeführte vertritt: daß diese drei Staatsformen je in besonderer Weise ausarten können und darum alle der Prüfung bedürfen, ob sie "nach dem Maßstabe des Rechtes" auf "den gemeinen Nutzen abzielen" und den Staat als "eine Gemeinschaft freier Leute" aufrechterhalten. Die spannende Frage ist, wie sich Calvins Aufruf zum Gehorsam gegen (den biblischen!) Gott und diese anscheinend problemlose Übernahme griechischen Staatsdenkens zueinander verhalten. Natürlich nicht im Sinn einer Identifikation: aristotelische Staatstheorie = Gehorsam gegen Gott! Sondern umgekehrt: Weil der Gehorsam gegen Gott nicht identisch ist mit dem Gehorsam gegen einen bestimmten Staat und eine bestimmte Staatsform, weil wir in der Anerkennung dessen vielmehr zu einem konkret-praktischen, freien Erwägen und Prüfen dessen gedrängt werden, was denn jeweils Recht und Unrecht heißt, darum kann die christlich-theologische Besinnung in dieser griechischen Theorie in all deren Profanität ein brauchbares Hilfsmittel bei der nötigen Klärung dieser Aufgabe erkennen. Differenzierte Überlegungen dazu - verbunden mit einer Verwahrung gegen "die gewisse Hetze gegen das Griechentum, die sich in der Theologie der letzten Jahre bemerkbar gemacht", die in der Regel verkennt, wie "diese griechischen Menschen ... als Bürger in Freiheit miteinander zu leben gewußt haben" - finden sich bei K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/2, S. 341f.

41 Im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung von E. Kochs: Johannes Calvins Auslegung des Propheten Daniel, Neukirchen 1938. Die im obigen Abschnitt in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe.

42 Wenn es tatsächlich bei Calvin eine 'Verachtung des Pöbels' gegeben hat, dann dürften diese letzten beiden Sätze nicht unterschlagen werden, die die nachdenkliche Einsicht verraten, daß ein von solchen Mächtigen unmündig gehaltenes Volk in der Tat zum 'Pöbel' wird, sei es im blinden Beifall zu diesen Mächtigen, sei es in schweigendem Mitmachen bei deren Tun.

43 Diese Kritik war ja schon auch in Inst. 4,20.8 zu lesen, daß faktisch von der Monarchie die größte Gefahr im Staat ausgeht. Es ließe sich m.E. überhaupt zeigen, daß gegenüber Calvins Inst.-Ausgabe von 1536 in der von 1559 die 'obrigkeitskritischen Züge merklich vermehrt sind.

44 Calvin bezeichnet das bürgerliche Regiment alternativ als "Administration" oder als "Magistrat" - Bezeichnungen, die ja in Ländern, in denen der 'Calvinismus' verbreitet war und ist, bis heute allgemein üblich sind. Ich bevorzuge hier diese Bezeichnungen, weil sie nicht dasselbe sagen wie das deutsche Wort "Obrigkeit", für das es übrigens auch kein direktes Äquivalent im Englischen und Französischen gibt.

45 Gleichwohl erklärt Calvin, der Sache nach konsequent: Die "Freiheit" - daß die Inhaber eines Regierungsamts "von dem ganzen Volke gewählt" werden - "ist sehr zu empfehlen: wir sollen nicht gezwungen werden, irgend jemand zu gehorchen, der mit Gewalt über uns gesetzt ist." Es ist "dem Volk die Wahl" zu überlassen, "damit nur erprobte Leute das Amt überkommen" (Auslegung von Dtr. 5, 13, in: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 2, Neukirchen o.J., S. 202.

46 So R. Nürnberger, nach: Vahle, aaO (Anm.1), S. 202.

47 Calvin, Daniel, aaO (Anm. 41), S. 386; vgl. Inst. 4,20.29. 30: Solange er sie noch nicht absetzt, sollen wir, statt Gott eigenmächtig vorzugreifen, Buße tun, in "Erinnerung an unsere Missetaten". Dieser Gedanke muß nicht bedeuten, daß er von einem brennenden politischen Problem auf ein ganz anderes, individuell-religiöses ablenkt (obwohl und indem in ihm etwas von dem Satz steckt, daß das Volk die Regierung hat, die es verdient, und daß darum eine unrechte Regierung, wie Calvin meint, ein Zeichen des göttlichen Gerichts ist). Der Gedanke kann vielmehr auch die tiefere, schärfere Bedeutung haben, daß ein Volk, je mehr es im Blick auf sein eigenes Tun ein gutes Gewissen hat, umso mehr damit den Boden unter einem Regiment, das zu seinem Tun kein gutes Gewissen haben kann, aushöhlt. - Die Forschung hat vielfach hervorgehoben, daß Calvin nicht den schon im Mittelalter bekannten und dann für die Ausbildung der modernen Demokratie wichtigen Vertragsgedanken in dem Sinn vertreten habe, daß, wenn der eine Partner (die Obrigkeit) treulos wird, der andere Partner (das Volk) sich von ihm lossagen darf; vgl. z.B. Staedtke, aaO (Anm. 1), S. 286f. Ja, aber wenn das Volk angesichts eines treulosen Herrschers auf Gott vertrauen soll, so entspricht es doch dem, daß Gott - durch seine Einsetzung der Magistrate als seiner Vikare - gleichsam mit ihnen einen 'Vertrag' eingegangen ist, den er offenbar, indem er sie "stürzt", auch lösen kann.

48 So Inst. 4,20.30 - wobei diese "Erretter" für Calvin keine mirakulöse göttlichen Erscheinungen sind, sondern z.B. in dem spontanen Wutausbruch eines Volkes bestehen können, obwohl es dabei "etwas anderes im Schild" führen mag, als Gottes Sache zu führen. Der Unterschied zwischen dieser und der gleich noch zu nennenden Widerstandsmöglichkeit ist nicht, daß die erste ohne und die zweite von Menschen durchgeführt wird, sondern, daß die erste eine 'außerordentliche' und die zweite die 'ordentliche' Möglichkeit ist. Dabei könnte dann Calvin beides sagen wollen: Damit es nicht zu jener außerordentlichen Widerstandsform kommt, muß eben die ordentliche 'funktionieren'; aber auch: Wenn hier die ordentlich dazu Berufenen versagen, dann kann Gott sich auch außerordentliche "Erretter" berufen.

49 Ich würde die These vertreten, daß die Bejahung eines Widerstandsrechts gegen eine verkehrte Regierung nur in jener von Calvin zugleich geltend gemachten, sachlich begründeten 'Zögerlichkeit' zur 'Brunnenstube der Demokratie' werden konnte. Denn sie sensibilisiert für das Problem, daß bei der Herstellung einer humaneren, nicht mehr tyrannischen Ordnung nicht nur die Gefahr droht, daß mit den Regeln der bestehenden Ordnung auch das Recht zugunsten einer durch den Anspruch auf die eigenen guten Absichten gedeckten Eigenmächtigkeit suspendiert wird. Es droht dabei zugleich und erst recht die Gefahr der Blindheit dafür, daß der Versuch zur Überwindung einer Gewaltherrschaft mit der Anwendung von ihr nur zu ähnlichen, eben auch gewalttätigen Mitteln, statt zu deren Überwindung, zu deren Verlängerung bzw. zur Errichtung einer neuen Gewaltherrschaft zumindest führen könnte. In der Sensibilisierung gerade auch für die letztere Gefahr ist für die reformierte Tradition mit der Kritik an Gewaltherrschaft auch die Kritik an unkontrollierter irdischer Gegengewalt gegen sie typisch geworden. Letzteres war z.B. von 1917 an der entscheidende Einwand des Religiös-Sozialen L. Ragaz gegen den russischen Bolschewismus; ähnlich auch K. Barth, Der Römerbrief, Bern 1919, S. 368ff.

50 D. Bonhoeffer, aaO (Anm. 2), S. 42f. sieht hier richtig: "Die Begrenzung aller irdischen Gewalten durch die Souveränität Gottes", - dieser "dem Calvinismus entstammende Gedanke" "begründet die amerikanische Demokratie."

51 Genfer Katechismus, bei: Simon, aaO (Anm. 19), S. 163.

52 K.Barth, Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zürich 1945, S. 165, hat auf diesen Punkt in durchaus calvinischem Geist hingewiesen: "Es ist schade, daß wir für diese Ordnung kein besseres Wort haben als das Wort 'Demokratie'. Denn 'herrschen' kann und soll auch bei uns nicht 'das Volk', sondern das Recht und die Pflicht der Gemeinschaft und der Freiheit: nur daß wir eben das Volk ... durch das Mittel des Wahl- und Stimmzettels ... für die immer neue Aufrichtung und Erhaltung dieses Rechts haftbar und verantwortlich machen."

53 Ich schreibe das während der deutschen Diskussionen um das Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts, bei denen ich nicht verstehen kann, weshalb die Kirche sich auf das falsche Geleise einer Diskussion über den Sinn einer Abbildung des Kreuzes und seiner Bedeutung als Symbol des Abendlandes verleiten ließ - wo es hier doch schlicht und bloß um die Frage des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit in der Demokratie nicht innerhalb der Kirche, sondern des politischen Raumes ging und geht.

54 Calvin, Daniel, aaO (Anm. 41), S. 437.

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© Eberhard Busch 1995

 

 

 

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Stand: 19. Februar 2020

 

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