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Reformiertes Profil in der Gesellschaft *

 

Walter Schöpsdau

 

Daß es neben den Lutheranern auch Reformierte gibt, hat die deutsche Öffentlichkeit wahrscheinlich zum ersten Mal wahrgenommen, als in den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluß Anfang der achtziger Jahre das Moderamen des Reformierten Bundes mit der Botschaft aufschreckte, daß es bei der angedrohten Aufstellung der Pershing-Raketen um Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums gehe. Die Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln sei mit dem Bekenntnis des christlichen Glaubens nicht vereinbar und verdiene „ein Nein ohne jedes Ja“[1]. Das seltsame Wort „Moderamen“ gehörte plötzlich zum aktiven Wortschatz von Friedensgruppen, epd gab der Republik Nachhilfeunterricht über den Reformierten Bund. Als knapp zehn Jahre später vor dem Golfkrieg die Reformierten erklärten, „daß wir uns jeglicher Beteiligung an diesem Krieg und jeglicher Billigung der kriegerischen Aktionen um unseres alleinigen Herrn Jesus Christus willen verweigern“[2], da war es längst wieder still geworden um sie.

Die Bezeichnungen „reformatorisch“ und „reformiert“ korrekt unterscheiden zu können, ist auch in Kirchenkreisen ein Indikator höherer Bildung. Ich war im Oktober in der Rostocker St.Petri-Kirche, wo eine Schautafel den falschen Begriff gebrauchte, wogegen der Küster im Güstrower Dom sich kundig zwischen den beiden Bezeichnungen zu bewegen wußte. Die eingeschränkte Wahrnehmung des reformierten Protestantismus hat gewiß damit zu tun, daß die reformierten Kirchen in Deutschland wie in Europa sämtlich Minderheitskirchen sind, wenn man einmal von einigen Landstrichen in Deutschland, vom ehemals reformierten Holland, von einigen Kantonalkirchen in der Schweiz und der Kirche von Schottland absieht. Hinzu kommt, daß die Reformierten jeglicher Form hagiographischer Selbstdarstellung mißtrauen. Wer Stätten der reformierten Kirchengeschichte bereist, muß häufig suchen, bis er eine unscheinbare Tafel findet. In Utrecht ist die Zentrale der „Samen-op-Weg-Kerken“ in einer ehemaligen Kaserne versteckt, an der von außen nichts an ihre neue Nutzung erinnert. Ohne gewachsene Kultur der Selbstdarstellung haben die Reformierten Mühe, in den modernen Medien ähnlich präsent zu sein wie andere Konfessionen. Und: „Sollten einzelne Reformierte sich einmal öffentlichkeitswirksam hervortun, können sie sicher sein, wie König Saul (1. Sam. 10, 24-27) zuerst von den eigenen Brüdern zurückgestuft zu werden“[3].

 

Wer sind die Reformierten? Woher diese Neigung, im politischen Streit auf das vernünftige Argument noch eins draufzusatteln und die Autorität „unseres alleinigen Herrn Jesus Christus“ zu bemühen und den „status confessionis“ auszurufen?

Von den Gründervätern her sollte man zunächst das Gegenteil erwarten. Kein Mönch wie Martin Luther, sondern ein ehemaliger Militärseelsorger und Stadtpfarrer, Ulrich Zwingli, und ein theologisch gebildeter Jurist, Johannes Calvin, stehen am Anfang der reformierten Kirche. Der Ex-Mönch Luther mußte sich das Ja zur Aufgabe der Weltgestaltung immer neu vorsagen. Spricht er von guten Werken, dann niemals ohne die Warnung, durch sie in den Himmel kommen zu wollen. Nicht daß sie getan, sondern daß sie, wenn getan, im Glauben getan werden, ist Luthers erste Sorge. Der „auffällige Nachdruck, mit dem er die Möglichkeit und Gottwohlgefälligkeit eines christlichen Lebens innerhalb der Verhältnisse und Ordnungen dieser Welt behauptet hat“, ist für Karl Barth „ein Symptom [...] dafür, daß er sich selbst nach dieser Seite von etwas überzeugen mußte. Die Reformierten waren in der Lage, den durch die Aufgabe eines Weltlebens im Gehorsam gegen Gott gestellten Problemen ruhiger, sachlicher ins Auge zu sehen, sie haben weniger krampfhaft [...] behauptet, was nun einmal nicht zu behaupten war, daß Heiraten, Leben im Beruf, Krieg führen, ein obrigkeitliches Amt ausüben Werke der christlichen Liebe seien, weil sie von Haus aus ganz anders als Luther auf dem Boden standen, daß das alles nun einmal auf Grund des von Gottes Geboten bestätigten natürlichen Rechtes - nicht gerade ein Werk der Liebe sei (wirkliche Ethiker pflegen mit dem Begriff ‘Liebe’ etwas sparsamer umzugehen als Luther), wohl aber im Zusammenhang des ganzen von Gott geforderten Tuns als Unvermeidlichkeit zu geschehen habe“[4].

Calvin hat in keiner Schrift bewiesen, daß „Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“, wie Luther. Für ihn war das Kriegshandwerk ein Geschäft, das mit der Bosheit der Menschen zu tun hatte und den Kämpfenden zum Totschläger machte; er hat aber gleichzeitig „kaltblütig“ (Barth) ein Reglement verfaßt für die Artillerie, die Genf gegen die savoyardischen Nachbarn schützen sollte, und Zwingli starb auf dem Schlachtfeld. Die Verklärung obrigkeitlicher Tätigkeit als Werk der Liebe findet sich nirgends bei Calvin. Die politische Funktion ist für ihn so sehr eine Notwendigkeit, das natürliche Gesetz der „Billigkeit“, auf dem die bürgerliche Ordnung ruht, wird durch das göttliche Moralgesetz so eindeutig bestätigt (Inst. IV 20, 16), daß Calvin nie gezögert hat, sich als Diener am Wort auch als Staatsmann in eigener Person zu betätigen. Luther hat verdächtig laut davon geredet, daß das Kind Gottes als Stallmagd oder Ratsherr in der Welt seines Glaubens leben und Gott dienen dürfe und müsse. Die Reformierten haben leiser davon geredet, aber ruhiger und selbstsicherer in dem von Luther gemeinten Sinn gelebt[5].

Von daher würde man erwarten, daß gerade die reformierte Tradition auf theologische Überhöhung und Immunisierung in ethischen Auseinandersetzungen zugunsten sachlicher Argumentation verzichten könnte. Der Trend zur Theologisierung der Ethik dürfte aber gerade damit zu tun haben, daß Calvin und Zwingli - ich zitiere wieder Barth - „keine von der Grundanschauung des Mittelalters glücklich befreiten Mönche, sondern zu Gott bekehrte Renaissancemenschen“ waren. Bürger aufstrebender Stadtrepubliken, überall in Fühlung mit der modernen Emanzipationsbewegung, trugen die Reformierten den Humanismus und den Moralismus des Zeitgenossen in sich selber, mußten darum aber auch an dieser Stelle umso wachsamer sein. Den Schnitt zwischen sich und einem humanistischen, die Offenbarung neutralisierenden Christentum haben sie schärfer und nervöser gezogen als die Lutheraner, um „den rebellischen Menschen zur Unterwerfung unter den Willen des allein weisen und gütigen Gottes aufzufordern“[6]. Daß der Gerechte allein aus Glauben lebt, das sagte Calvin auch, aber er sagte es nicht so laut wie das andere: daß er aus dem Glauben auch wirklich lebe.

Aus dieser Weichenstellung begreifen sich die reformierten Spezifika: Der Gedanke des Bundes zwischen Gott und den Menschen; die Hereinnahme des Gesetzes in das Evangelium; die Betonung der Heiligung als Ziel der Rechtfertigung; die Einheit von Zuspruch und Anspruch; Aufmerksamkeit für den originären Charakter des biblischen Gesetzes als gute Weisung; neue Zuwendung zum Alten Testament und damit verbunden der Anstoß zum christlich-jüdischen Dialog unserer Tage[7].

 

Was ergibt sich aus all dem für das reformierte Profil in der Gesellschaft?

Vier Aspekte erscheinen mir erwähnenswert.

Der erste ist ein bundestheologisch fundierter Umgang mit Vielfalt.

Sodann ist in der nachmetaphysischen Situation unserer Zeit das Bilderverbot und das Axiom „finitum noch capax infiniti“ von besonderem Interesse.

Nicht fehlen darf drittens die Max-Weber-These über die Nähe von Kapitalismus und Calvinismus.

Abschließend soll es um das politische Wächteramt der Kirche gehen mit besonderer Berücksichtigung des reformierten Profils im deutschen Kirchenkampf.

 

1. Bundestheologie, Postkonfessionalismus, Postmoderne

 Als die Lutheraner sich die Köpfe darüber heiß redeten, ob sie der Gemeinsamen Erklärung die Qualifizierung der Rechtfertigungslehre als „ein unverzichtbares Kriterium“ durchgehen lassen oder auf der Exklusivität dieses Kriteriums insistieren sollten, ließen die Schweizer Reformierten kühl verlauten: „Von einem reformierten Schriftverständnis her, das die ganze Bibel (tota scriptura) in ihrer innerkanonischen Vielfalt ernst zu nehmen versucht, und auf der Basis der durch historisch-kritische Schriftauslegung geschärften Sensibilität für das polyphone Zeugnis der Bibel, in der jede Stimme relativ zu anderen Stimmen verstanden werden muß, scheint uns die Rede von ‘mehreren Kriterien’, von verschiedenen möglichen und sachlich legitimen Perspektiven oder Zugängen zur Wahrheit und Wirklichkeit Gottes angemessener als das Insistieren auf einer exklusiven Normativität des paulinischen Rechtfertigungsverständnisses als einzigem verbindlichem Kriterium für evangelische Lehre und Verkündigung. In diesem Sinne ist für uns, schon gar angesichts der gegenwärtigen Situation, die wie auch immer verstandene Rechtfertigungslehre nicht der eine Glaubensartikel, mit dem die Kirche heute steht und fällt“[8].

Was läßt sich als reformiertes Paradigma erkennen, wenn die Rechtfertigungslehre als Zentralkirterium nicht in Frage kommt? Am schlüssigsten ordnet sich alles vom Gedanken des Bundes aus. Die Rechtfertigungslehre ist nicht mit einer Beschreibung des Vorgangs im Leben der Gläubigen zu verwechseln, das ergäbe ein völlig abstraktes Bild vom Menschen und der Kirche. Bundestheologisch ist Rechtfertigung und die ihr entsprechende Freiheit nichts anderes als die partielle Vorausnahme von Gottes eschatologischer Gerechtigkeit in einer Gruppe von Menschen, die ihr Vertrauen in die Zukunft Gottes setzen und ihre Geschichte in die seine hineinnehmen lassen. Das Anliegen der Rechtfertigungslehre ist dann auf den Satz reduzierbar, daß es sich bei dieser Hoffnung eben um Gottes Recht und nicht das unsere handelt[9].

Die Bundestheologie zieht eine Ethik gleichnishafter Entsprechungen des Gottesreiches nach sich. Schon in der Bibel überträgt sich der Bundesgedanke auf die Horizontale des Zwölfstämmebundes. Er ebnet den Weg für den Vertragsgedanken der politischen Philosophie. Johannes Althusius, der vorübergehend an der Herborner Schule lehrte, sah jegliche staatliche Souveränität als ein an Bedingungen geknüpftes und darum kündbares Delegat an, das ursprünglich von kleinen Gemeinschaften ausgeht, sich von unten nach oben föderativ entwickelt und ein Widerstandsrecht gegen tyrannische Herrschaft einschließt. Von Althusius nimmt der Gedanke der Volkssouveränität seinen Weg über den Genfer Philosophen Rousseau bis zur amerikanischen Verfassung.

Als Bundesurkunde sperrt sich die Schrift gegen das rechtfertigungstheologische Raster von Gesetz und Evangelium. Normativität kommt der Bibel in ihrer Ganzheit zu, „also gerade in ihrem logisch nicht harmonisierten Ineinander, Nebeneinander und Gegeneinander unterschiedlichster Erfahrungen, Erwartungen, Bilder und theologischer Entwürfe“ (Rüegger). Reformiertes Christentum will pluralismusfähiger sein; es bekennt sich zu einem „postkonfessionellen Paradigma“ der Ökumene[10] und einem „polyphonen Wahrheitsbegriff“[11]. Es mißtraut einer Konsens-Ökumene, die auf dogmatische Fragestellungen von gestern fixiert ist. Darum fanden die Reformierten lange vor den Lutheranern zur Öffnung des Abendmahls für alle Getauften[12].

Reformiertes Christentum - ich zitiere wieder Barth - hat „etwas Pietätloses“. Ihm liegt nichts an Kontinuität mit der katholischen Tradition, die das Augsburger Bekenntnis beansprucht.  Die Universalität des Glaubens, nach der freilich auch die reformierte Gesinnung strebt, liegt in der Zukunft. „Sie ist nicht gegeben, sondern gesucht.“ Gerade die partikulare Bekenntniskirche, die die Wahrheit ihres Bekenntnisses im Anschluß an die Schrift und nicht durch formellen Anschluß an eine Allgemeinkirche oder ein Normaldogma bewähren will, ist Träger der ökumenischen Hoffnung. Der legitime Weg zur Universalität ist die Partikularität Von daher die Katholiken und Lutheraner gleichermaßen verstörende „unübersichtliche Krähwinkelei“ der vielen reformierten Bekenntnisse, die gar nicht den Drang haben, irgendwann einmal in einem allgemeinen Bekenntnis der reformierten Kirche aufzugehen.[13].

Reformiertes Schriftverständnis impliziert Achtsamkeit auf Intertextualität und damit auch auf das formale Moment der Schriftlichkeit des Gotteswortes. An dieser Stelle ergeben sich aufschlußreiche Parallelen zur Dekonstruktion eines Jacques Derrida und anderer postmoderner Philosophen. Ist es Zufall, daß man reformierte Theologen an vorderster Stelle an der „Spurensuche im Grenzland“[14] von Postmoderne und Theologie antrifft?

Die Derridasche Dekonstruktion kehrt die Hierarchie von Sprache und Schrift um: Der schriftliche Text ist nicht das Vehikel, durch das man zum Skopos vordringt und das mit der Erhebung des Skopos seinen Dienst getan hat. Sondern die Schrift, der Buchstabe in seiner Materialität - das erinnert an rabbinische Exegese - behält die unhintergehbare Funktion eines Platzhalters des ganz Anderen. Ins Theologische gewendet: Wir haben den Sinn der Schrift nie in Gestalt eines Materialprinzips wie der Rechtfertigungslehre hinter uns. In seiner Schriftlichkeit ist der Kanon Platzhalter der Freiheit des Wortes gegenüber zugreifender Vernunft, Quelle unabschließbarer Deutungen und stets neuer Rückwendungen zur Sache. „Gerade die Schriftlichkeit des Wortes Gottes sichert ihm seine Freiheit gegenüber der Kirche und verschafft damit auch der Kirche Freiheit sich selbst gegenüber“[15]. Von der Schriftwerdung des Wortes aus führt der reformierte Wiener Theologe Ulrich H. J. Körtner ein Gespräch mit rezeptionsästhetischen Texttheorien der Gegenwart, um aus den Sackgassen der historisch-kritischen Exegese herauszukommen. Diese meint einen Text verstanden zu haben, wenn sie sein Begriffsmaterial historisch abgeleitet hat; sie verwechselt den vermeintlichen Schriftsinn mit der vermeintlich eruierbaren Intention seines historisch-empirischen Autors. In Wirklichkeit gehört der Leser konstitutiv in den Text; er ist es, der den Text im Akt des Lesens neu produziert, freilich so, daß er selbst dabei verwandelt und rekonstruiert wird[16]. Für dieses hermeneutische Geschehen scheint das reformierte Schriftverständnis günstige Bedingungen zu enthalten, da es nicht durch ein Schema wie „Gesetz und Evangelium“ kanalisiert wird.

  

2. Bilderverbot und „finitum non capax infiniti“

 Von Bundestheologie und Schriftprinzip her erschließt sich ein zweiter Aspekt reformierter Identität, das Axiom „finitum non capax infiniti“. Mit der jüdischen Tradition zählen die Reformierten das Bilderverbot als ein selbständiges Gebot, das damit wieder seinen eigenen Stellenwert gewinnt.

Die Nüchternheit ihrer Gottesdiensträume, die Kargheit der Liturgie wird heute auch von Reformierten in ihrer Ambivalenz gesehen. Dialektische Theologie weiß: Forcierte Bildlosigkeit kann subtilster Bilderdienst sein; der allzu transzendente Gott ist am Ende der allzu menschliche. Doch Mißtrauen gegen die Idee unmittelbarer Präsenz ist bestes reformiertes Erbe; die jüdischen Wurzeln teilt es mit den postmodernen Philosophien der Alterität eines Lévinas oder Derrida. Olivier Abel, Philosoph an der Faculté libre de théologie protestante in Paris, bekennt von sich:

„Wenn ein französischer Protestant, ein Calvinist aus der Ardèche, wie ich es bin, etwa den barocken Reichtum des spanischen Katholizismus oder die überwältigende Fülle der orthodoxen Kirche entdeckt, mag er wohl fasziniert sein. Ich kann mich in der Tat faszinieren lassen, weil ich diesen Traditionen fern bin und nie unter ihnen gelitten habe. Umgekehrt habe ich gelitten - und wir alle leiden - unter dieser westlichen Kultur, die durch das lateinische Christentum und später durch den Protestantismus geprägt ist. Diese ‘Religion als Ausgang aus aller Religion’ hat Auswirkungen, die wir ganz und gar verinnerlicht haben: besonders diese merkwürdige Mischung aus Vertrauen (aus dem Gefühl, von uns hänge es nicht ab) und Zweifel, einer Art mystischen Zweifels, der alles problematisiert, alles diskutiert, alles hinterfragt - für mich beides Auswirkungen des reformierten Glaubens“[17].

Die kunstgeschichtlichen Auswirkungen des Bilderverbots sind bekannt. Da die kirchlichen Aufträge ausblieben, verlegten sich die Maler in den calvinistisch gewordenen nördlichen Niederlanden auf andere Genres. Es kam zu einem Boom neuer, unverfänglicher Sujets wie Jagdszenen, Landschaften, Seestücke, Stilleben. Nur eine Berühmtheit wie Rembrandt konnte sich trotz der reformierten Verbote religiösen Themen zuwenden. Verkappt leben die religiösen Motive fort: Man hat in Frauengestalten Vermeers, von dem freilich nicht sicher ist, ob er zum Katholizismus konvertierte, eine heimliche marianische Ikonographie entdecken wollen, etwa in der Perlenwägerin der National Gallery in Washington, die kompositorisch die exakte Mittelstellung unter einem an der Wand befindlichen Christusbild einnimmt und deren Waage an die Vorstellung der „mediatrix“ erinnert, der Gottesmutter, die im Gericht für die Gläubigen eintritt[18]. Man hat auch gemeint, in den schmalen, überlangen, wie ein Nichts in den Raum aufgelösten Menschentorsi Giacomettis eine letzte Radikalisierung reformierten Denkens zu entdecken, die sich aus seiner reformierten Kindheit herschreiben könnte. Gilt das Axiom „finitum non capax infiniti“, dann ist nicht nur Gott unfaßbar, dann kann auch der Endliche, der Künstler, den Menschen in seinem unendlichen Geheimnis nicht mehr fassen[19].

Es wäre eine reizvolle Aufgabe, der Frage nachzugehen, wie weit die Theologie Karl Barths Spuren im Werk von Künstlern und Denkern Spuren hinterlassen hat. Man weiß es von Friedrich Dürrenmatt, der sich als Protestant bezeichnet hat, der mit den Schwierigkeiten des Glaubens ringe[20]. Ich möchte auf einen Autor aufmerksam machen, von dem man es nicht vermuten würde, das ist der amerikanische Schriftsteller John Updike. Er stammt aus einer presbyterianischen Familie, sein Großvater war presbyterianischer Pfarrer. Updike, genau beobachtender Schilderer der amerikanischen Mittelklasse und menschlicher „loneliness“, schrieb Barth wenige Wochen vor dessen Tod, wie viel er seinen Büchern verdankte (worüber sich Barth nach Mitteilung seines Sekretärs sehr „erstaunt“ gezeigt haben soll); eine schwere Lebenskrise hatte Updike 1968 mit Hilfe von Barthlektüre überstanden, den „Römerbrief“ hatte er an seinem Bett[21].

Einer von Updikes Romanen, „Roger’s Version“ (1986), auf Deutsch unter dem Titel „Das Gottesprogramm“ erschienen, trägt schon ein Barth-Zitat als Motto auf der ersten Seite. Der junge Evangelikale Dale hat ein Computerprogramm entwickelt, das Gottes Existenz beweisen soll; sein Gegenspieler (auch in erotischer Hinsicht, wie bei Updike nicht anders zu erwarten), der von Barth geprägte Professor Lambert insistiert darauf, „daß ein Gott, der sich beweisen läßt, genauer, der gar nicht umhin kann, bewiesen zu werden“, niemals Gott sein könne; er wäre nicht mehr „der Andere“, ohne den die Welt und das Leben stillstehen würde[22]. Kann aber Barthsche Dialektik nicht in agnostische Gott-ist-tot-Theologie oder komfortablen Atheismus umschlagen? So ist Updikes Lambert aus der Theologie ins religionswissenschaftliche Department übergewechselt. In dem Maße, wie er Gott in Sicherheit bringt, ist er auch selbst vor ihm sicher, was ihm der Evangelikale auf den Kopf zusagt: „Your God sounds like a nice safe unfindeable God“. Atheismus aus Frömmigkeit und Eifer um Gottes Gottheit, um Gottes weltliche Nichtnotwendigkeit (Jüngel), erweisen sich als Zwillingsbrüder: „Free him, even though he die“[23].

So entdeckt Lambert seinen negativen Gottesbeweis: Er liegt mit Verna im Bett, und „mit Blick zur Decke verstand ich, wieviel Majestät darin liegt, daß wir nicht aufhören, Gott zu lieben und zu ehren, selbst wenn er uns Schläge zufügt - genau wie in dem Schweigen, das Er wahrt, damit wir unsere menschliche Freiheit auskosten und erkunden können. Das war mein Gottesbeweis, verstand ich auf einmal, - der Abstand zu der unerreichbaren Decke, der unendliche Abstand, der unsere Erniedrigung ermessen läßt. Ein so tiefer Fall beweist große Höhe“[24].

Reformiertes Profil - das heißt Nähe zu Aufklärung und radikaler Kritik. Alles steht zur Debatte, auch die Bibel, auch die Theologie, auch der Glaube, sogar das Denken dessen, der so radikal denkt. Aber dies nicht aus einem methodischen Zweifel à la Descartes, der auf ein letztes fundamentum inconcussum stoßen möchte, sondern aus der Ungeschütztheit des Glaubens. Der französische Philosoph Paul Ricœur, ein reformierter Christ, bekennt: Philosophie und biblischer Glaube verhalten sich nicht wie Frage und Antwort. In meiner Philosophie ist die Nennung Gottes abwesend, damit der Glaube nicht als Lösung eines philosophischen Problems mißverstanden wird. Es geht im Glauben vielmehr um Antwort auf einen „Anruf“. Die Abhängigkeit von einem Wort, das uns unserer Selbstherrlichkeit beraubt und zugleich unseren Existenzmut fördert, „befreit den biblischen Glauben von der Versuchung, [...] nunmehr die Leerstelle der Letztbegründung besetzen zu wollen. Umgekehrt kann ein Glaube, der um seine eigene Ungeschütztheit weiß, [...] der hermeneutischen Philosophie helfen, sich vor der Hybris zu bewahren, als Erbin der Philosophien des Cogito und ihres Anspruchs auf letzte Selbstbegründung aufzutreten“[25].

 

3. Calvinismus und Kapitalismus

 Die bekannte These Max Webers über den Zusammenhang von calvinistischer Ethik und modernem Kapitalismus[26] knüpft an die Beobachtung an, daß der moderne Kapitalismus weder in katholischen noch in lutherisch geprägten Ländern, sondern in Holland, England und den USA seinen Anfang genommen hat, Ländern also, die religiös vom Calvinismus geprägt sind. Das heißt aber nicht, daß der Kapitalismus als solcher eine Frucht des Calvinismus gewesen ist[27]. Webers Belege stammen aus dem englisch-amerikanischen Calvinismus des 17. und 18. Jahrhunderts, als sich dieser bereits mit anderen Geistesströmungen verbunden hatte.

Eine große Rolle spielt in Webers These die calvinistische Prädestinationslehre. Dieses reformierte „Zentraldogma“ habe im 16. und 17. Jahrhundert religiöse „Angsteffekte“ erzeugt, die die Menschen nur durch „rastlose Berufsarbeit“ abreagieren konnten, wobei beruflicher Erfolg zugleich als Ausweis des Erwähltseins gedeutet wurde. Untersuchungen haben indessen gezeigt, daß das Kirchenvolk und die meisten Pfarrer von der Prädestinationslehre, wie sie von den streitsüchtigen und disputierfreudigen Theologen auf den Theologenkonferenzen von Dordrecht (1618-1619) und Westminster (1643-1649) traktiert wurde, wenig berührt waren. Eine Durchsicht von 100 Autobiographien und 300 Tagebüchern, zumeist aus der Feder von Puritanern des 17. Jahrhunderts, ergab von Angst keine Spur. Was die Frömmigkeit prägte, war Glaube an die Vorsehung und die Gegenwart eines gütigen Gottes in der Welt des Alltags; und darin unterschieden sich die christlichen Konfessionen gar nicht so sehr voneinander.

Richtig ist an Webers These, daß der Calvinismus vor allem im Puritanismus eine Disziplinierung aller Lebensbereiche, eine „innerweltliche Askese“ entfaltete, die dem kapitalistischen Erwerbstreben ebenso entgegenkam wie die Eigeninitiative und Selbstverantwortung des einzelnen, die durch die demokratische Kirchenverfassung der reformierten Kirchen gefördert wurde[28]. An die Stelle der Zweistufenethik von Mönchen und Weltchristen trat der Dienst für Gott im Dienst für die Menschen durch Arbeit im Beruf. „Gott liebt Adverbien“, schrieb geistvoll ein puritanismusfreundlicher englischer Bischof, „und schert sich nicht darum, wie gut etwas ist, sondern darum, wie wohl es getan ist“[29]. Der aus der Sünde resultierenden Herrschaft der Dinge über uns entkommen wir nicht durch mönchische Entsagung, sondern durch die Art ihres Gebrauchs, bei der wir Distanz zu ihnen wahren und den Blick auf Gott gerichtet halten.

So konnte der Calvinismus in der Zinsfrage eine progressivere Haltung vertreten als die Scholastiker und Luther. Der Darlehenszins galt als unmoralisch, weil dabei Gewinn ohne Arbeit und Risiken (DH 1442) erzielt und zugleich die Not eines Mitmenschen ausgenutzt wurde. Geld wurde für Thomas von Aquin legitimiert, wenn es in den Dienst des Nächsten gestellt wurde in Gestalt von Almosen.  Auch die Haltung des Calvinismus zum Zins war keineswegs unkritisch. Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden Bankiers und Geldverleiher nicht selten in Kirchenzucht genommen[30]. Aber für Calvin konnte Geld auch in Gestalt von Zinsen recht verwendet werden, wenn es in Projekte investiert wurde, die der Gemeinschaft zugute kamen. Reiner Erwerb um des Erwerbs willen war kapitalistisch, nicht calvinistisch.

So liegen auch Welten zwischen dem Individualismus des liberalistischen Kapitalismus und dem Gemeinschaftsimpuls der reformierten Ethik. Nicht zufällig hatte der religiöse Sozialismus reformierte Wurzeln. Kapitalismuskritik ist bis heute Merkmal reformierter Identität, wie der Beitritt des Reformierten Weltbundes  (jetzt Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen) zur globalisierungskritischen Bewegung ATTAC zeigt. Für den religiösen Sozialismus sollte das Reich Gottes nicht Vertröstung oder lähmender Vorbehalt, sondern Antrieb zur Veränderung sein. Die prophetischen Worte von Leonhard Ragaz haben nichts von ihrer Kraft verloren: „Die Einen glauben an Gott, aber nicht an sein Reich, das heißt nicht an die Gerechtigkeit - die Anderen glauben an das Reich, das heißt an die Gerechtigkeit, aber nicht an Gott. Beides hängt zusammen. Die Einen glauben nicht an das Reich, weil die Anderen nicht an Gott glauben. Diese glauben nicht an Gott, weil jene nicht an das Reich glauben“[31].

Mentalitätsgeschichtlich wirkt die protestantische Disziplinierung der Lebensführung mit den Tugendidealen von Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Nützlichkeit bis heute nach. Heinrich Böll zog hier einen konfessionellen Trennungsstrich. „Wissen Sie“, meinte er in einem Interview, „das Wort ‘Christ’ ist mir zu anspruchsvoll. Ich habe es eigentlich nie auf mich angewendet [...]. Das etwas Schmuddelige am Katholizismus reizt mich auch. Ich bin in diesem Sinne ganz unprotestantisch. Und da gibt es eben doch einen Zweig des Christentums, den kapitalistisch-calvinistischen, den ich für das Fürchterlichste halte, was nach der Reformation entstanden ist. Deshalb lege ich Wert darauf, mich lieber als Katholik denn als Christ zu bezeichnen“[32]. Auch Horkheimer und Adorno sehen die Nähe von Rationalismus und Protestantismus kritisch: „Wer unmittelbar, ohne rationale Beziehung auf Selbsterhaltung dem Leben sich überläßt, fällt nach dem Urteil von Aufklärung und Protestantismus ins Vorgeschichtliche zurück“[33].

Protestantisch geprägte Profile der Alltagskultur entdecken Religionssoziologen auch heute noch etwa in der größeren Leistungs- und Karriereorientierung der Protestanten gegenüber einer stärkeren Familienorientierung von Katholiken. Die protestantische Hausfrau pflegt eher einen rechenhaften Stil mit Haushaltsbuch, Einkaufszettel, Einkaufsplanung als die katholische, wobei sich aber Diasporakatholiken im Norden ebenso an die dort strengeren Regeln der Haushaltsführung anpassen wie Protestanten südlich der Mainlinie an den lockereren katholischen Stil[34], den wir im übrigen als Touristen in romanischen Ländern alle irgendwie sympathisch finden.

 

4. Politisches Wächteramt

 Mit Leonhard Ragaz wurde soeben ein bedeutender Vertreter jenes von den Reformierten großgeschriebenen politischen Wächteramts genannt, dem einige abschließenden Bemerkungen gelten sollen. Alexander Schweizer, Schüler Schleiermachers, hat idealtypisch einen lutherischen und einen reformierten Ansatz gegenübergestellt: „Dort [bei den Lutheranern] sieht man die Quelle des Verderbnisses in der judaisierenden Werkheiligkeit, hier [bei den Reformierten] in der paganisierenden Kreaturvergötterung“[35].

Von daher entwickeln Reformierte ein besonderes Sensorium für den ideologiekritischen Aspekt des Wortes Gottes; sie werden darin bestärkt durch das von ihnen hochgeschätzte Alte Testament und seine Propheten. Der Kampf gegen die falschen Absoluta richtet sich nicht nur gegen weltliche Ideologien, sondern auch gegen eine christliche „Nostrifikation Gottes“, gegen den auch in der Kirche ablaufenden „Versuch der Welt, ihre Sache zur Sache Gottes zu erheben oder umgekehrt: die Sache Gottes ihrer eigenen Sache zu unterwerfen und dienlich zu machen“[36]. Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Argument erweist sich jedoch als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander: Ist das öffentliche ethische Reden der Kirche Teil ihres Verkündigungsauftrags oder ein Akt gesellschaftlicher Diakonie?[37]

Als Kritik falscher Absoluta verstand sich die Barmer Theologische Erklärung, die unter wesentlicher Beteiligung reformierter Theologie zustande kam. Trotzdem wäre es verkehrt, von einer einheitlichen reformierten Linie im Kirchenkampf auszugehen. Eine Studie des Zeitgeschichtlers Günther van Norden erhebt vor dem Hintergrund der rheinischen Situation vier unterschiedliche reformierte Gruppenprofile[38].

Das „bekennende, politisch kritische Profil“ ist vertreten durch eine ursprünglich konservative Gruppe pietistisch geprägter Reformierter aus Barmen-Gemarke und Elberfeld; Liberalismus und Sozialismus hatten bei ihnen keine Chance. Die Gruppe repräsentiert ab 1933 den radikalen BK-Kurs gegen die kirchliche Obrigkeit. Unter dem Einfluß Barths und dem Eindruck konkreter politischer Inhumanität erwuchs zunehmend aber auch eine politisch kritische Position, basierend auf der Erkenntnis, daß der NS-Staat nicht mehr der Staat von Römer 13 war.

Man konnte aber auch alles Interesse auf die Sicherung der kirchlichen Aktivitäten konzentrieren und sich jeder Einmischung in den Staat, solange er die Kirche nicht behinderte, enthalten. Dieser von der Gemeinde Rheydt und der Reformierten Landeskirche Hannover repräsentierte „bekenntnismäßige, kirchenorientierte“ Typ verweigerte sich dem Konfliktkurs der Bekennenden Kirche. Man wollte die Einheit der Kirche erhalten, stritt immerhin gegen die kirchliche Obrigkeit für die reformierten Belange, für die Reinheit des Bekenntnisses und die presbyterial-synodale Kirchenverfassung, aber man griff nicht in den Bereich der staatlichen Interessen ein und konnte so relativ unbeschadet überleben.

Eine ultrareformierte, an der Christozentrik Kohlbrügges orientierte Gruppe um den Duisburger Superintendenten und späteren rheinischen Präses Fritz Horn stand den Deutschen Christen theologisch fern, politisch aber umso näher: auf der einen Seite lautere Verkündigung des Wortes Gottes nach dem Bekenntnis der Väter, auf der anderen Seite freudige Anerkennung des nationalsozialistischen Staates und seiner Anordnungen.

Während sich dieses „bekenntnismäßige, politisch involvierte Profil“ lediglich aus theologischen Gründen von den Deutschen Christen fernhielt, fällt auch diese Hemmung bei dem vierten „reformierten, deutschchristlichen Profil“. Hier wird strikt unterschieden zwischen der unsichtbaren Kirche des Glaubensbekenntnisses und der sichtbaren Kirche auf Erden, deren Ordnung dem Geist der Staatsführung nicht widersprechen dürften. Daß die reformierte Kirchenverfassung sich auf das Bekenntnis gründe, sei eine papierene Theologenweisheit, von der der Heidelberger Katechismus nichts wisse.

Der Überblick zeigt, daß das Feld des reformierten Protestantismus im Kirchenkampf alles andere als homogen war. Er zeigt ferner, daß es für unser Verhalten in der Welt offenbar „relativ belanglos ist, welche Theologie wir haben“ (van Norden); viel eher hängt es von unserer gesellschaftlich-politischen Sozialisation ab. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Eine vor zehn Jahren erschienene, weltweit angelegte Untersuchung von rund tausend ethischen Stellungnahmen aus den verschiedenen Konfessionen von 1964 bis in Ende der achtziger Jahre gelangt zu einem ähnlichen Urteil. Sie widerlegt die Annahme, daß ein im weitesten Sinne christologischer Ansatz nach Barmer Muster progressive, emanzipatorische Positionen begünstige, während schöpfungstheologisch begründete Ethiken zu konservativen, wenn nicht reaktionären Positionen gelangten:

Die Dutch Reformed Church von Südafrika hatte 1974 die Apartheid-Politik gerade schöpfungstheologisch mit der gottgewollten Verschiedenheit der Völker gerechtfertigt und auf der Basis einer Zwei-Reiche-Lehre ein Einspruchsrecht der Kirche dem Staat gegenüber verworfen. Die daraufhin erfolgte Ausrufung des status confessionis durch den Reformierten Weltbund  (jetzt Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen) argumentierte christologisch mit der „versöhnenden und einenden Macht unseres Herrn Jesu Christi“. Lutherische Kirchen gelangten aber auf einer schöpfungstheologischen Basis zu nicht weniger entschiedener Ablehnung des Apartheid-Systems. Selbst progressive Positionen wie die Anerkennung homosexueller Partnerschaften müssen nicht christologisch, sondern können auch schöpfungstheologisch begründet sein. Sogar innerhalb einer konfessionellen Tradition können „reformierte Christozentrik und typisch lutherische schöpfungsorientierte Zwei-Reiche-Ethik miteinander existieren, gelegentlich ergänzt durch Modelle, die auf Pneumatologie, Ekklesiologie, Eschatologie und dergleichen rekurrieren“[39].

Vorausgesetzt ist allerdings, daß Schöpfung und Erlösung nicht dualistisch getrennt, sondern unterschieden und in positiver Kontinuität zueinander verstanden werden. Werden sie getrennt, ist der Bekenntnisfall gegeben. Es steht dann nichts Geringeres auf dem Spiel als das Nizänische Glaubensbekenntnis mit seinem Bekenntnis zur Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater und Schöpfer. Die Dutch Reformed Church hat sich immerhin in späteren Jahren deutlicher auf die Anerkennung eines positiven Zusammenhangs von Schöpfung und Erlösung zu bewegt. In der Nachrüstungsdebatte der achtziger Jahre wurde dieser Zusammenhang von keiner Seite geleugnet, sofern die Verpflichtung zum Frieden bejaht und nur die Frage der Mittel der Friedenssicherung kontrovers beurteilt wurde. Die Ausrufung eines status confessionis kann in diesem Fall nicht als angemessen gelten. Eine  Bestreitung des Bekenntnisfalls setzt aber voraus, daß man eine teleologische Argumentation zuläßt, die nicht von der Qualität einer Waffe ausgeht, sondern von ihrer politischen Funktion, durch Abschreckung Frieden zu sichern. Ich meine, daß evangelische Ethik einen teleologischen Ansatz vertreten kann, weil sie, anders als die römische Moraltheologie, die Kategorie von Handlungen, die immer, ungeachtet der Umstände, Absichten und Folgen, „in sich schlecht“ sind, nicht kennt.


[1] Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Eine Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes, Gütersloh 1982, 6-9.

[2] epd-Dok. 8a/91, 11. Febr. 1991, 23.

[3] Matthias Krieg/Gabrielle Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2002, 453.

[4] Karl Barth, Die Theologie Calvins (1922). GA II. Akad. Werke, 1993, 113.

[5] Ebd. 114.

[6] Ebd. 105f. 109; ders., Die Theologie der refomierten Bekenntnisschriften (1923), GA II. Akad. Werke, 1998, 325f.

[7] Die Hochschätzung des Gesetzes läßt sich nicht zuletzt daraus erklären, daß ein Großteil der führenden Theologen im frühen Calvinismus ursprünglich von der Jurisprudenz herkam und Juristen für die Ausbreitung des Calvinismus eine zentrale Rolle gespielt haben (Christoph Strohm, Art. Calvinismus, in: Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2001, 231-238).

[8] Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Stellungnahme zur GE, 20. Jan. 1998, in: epd-Dok. 7/98, 9. Febr. 1998, 25. - Bei einer Konsultation amerikanischer Ökumeniker zur GER bekundete die reformierte Seite (Alan D. Falconer) geringeres Interesse an einer Fortführung der Debatte. Für die vom christlichen Humanismus herkommenden reformierten Gründergestalten stehe nicht die Frage nach dem gnädigen Gott (Römerbrief) sondern nach dem Reden Gottes überhaupt (Hebr. 1) im Zentrum. Reformierte favorisierten das Faith-and-Order-Projekt „Confessing the One Faith“, das die Kirchen fragt, wie weit das Nizäno-Konstantinopolitanum von 381 den Glauben der Kirche ausdrückt (‘The Joint Declaration on the Doctrine of Justification’: Soteriological and Ecclesiological Implications, in: Journal of Ecumenical Studies, 38, 2002 [1-93] 9. 16.

[9] Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984, 301.

[10] Heinz Rüegger, Ökumene angesichts zunehmender innerkirchlicher Pluralisierung, US 49, 1994, 327-332.

[11] Heinz Rüegger, Ökumenische Erwägungen im Zusammenhang mit der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, US 53, 1998 (57-72) 70.

[12] Erklärung des Reformierten Weltbundes  (jetzt Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen) von 1954, bei Karl Halaski (Hg.), Die reformierten Kirchen (Die Kirchen in der Welt 17), Stuttgart 1977, 27f.

[13] Barth, aaO. 19f.

[14] Hans-Jürgen Luibl (Hg.), Spurensuche im Grenzland. Postmoderne Theorien und protestantische Theologie, Wien 1996.

[15] K. Barth, KD I 2, 1935, 648.

[16] Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes, Göttingen 2001, 326. 344f.

[17] Bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 264.

[18] Ebd. 373.

[19] Ebd. 380.

[20] Ebd. 207.

[21] John McTavish, John Updike and the Funny Theologian, Theology Today 48, 1992, 413-425. Daß Barth von Updike gehört hatte, dafür gibt es einen Beleg: er bittet um eine Kopie von Updikes Artikel über sein Anselmbuch, von dem er durch den Präsidenten der Princeton Theological Seminary gehört hatte (K. Barth, GA V. Briefe 1961-1968, 1979, 213f.)

[22] John Updike, Roger’s Version, First Intern. Ed., New Xork 1987, 235. 189. 239 (eigene Übersetzung).

[23] Ebd. 32. 42. 93. 84.

[24] Ebd. 302.

[25] Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer [frz. 1990], München 1996, 37.

[26] Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1906), in: Die protestantische Ethik Bd. 1, hg. von Johannes Winckelmann, Hamburg 1973.

[27] Ulrich H. J. Körtner, Reformiert und ökumenisch, Innsbruck-Wien 1998, 88.

[28] Bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 64f.

[29] Zit. bei Charles Taylor, Quellen des Selbst (stw 1233), Frankfurt a. M., 1996, 396.

[30] Körtner, aaO. 90.

[31] Leonhard Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, Bern 1945, 190.

[32] Interview mit Heinrich Böll, Herder-Korr. 36, 1982 (431-436) 435.

[33] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Ausg. Fischer-TB 6144, Frankfurt a. M. 1973, 30.

[34] Gregor Siefer, Der Einfluß konfessioneller Faktoren auf Entstehung und Veränderung sozialer Verhaltensmuster, in: Oswald Bayer, u. a., Zwei Kirchen - eine Moral?, Regensburg 1986, 9-51.

[35] Zit. bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 39.

[36] Karl Barth, KD I 2, 1935, 214.

[37] Vgl. in der EKD-Denkschrift „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“, Gütersloh 1970, die Nrn. 4. 8. 11 mit 6. 5. In Nr. 12 stehen „Verkündigungs- und Sendungsauftrag“ und „vernünftige Argumentation“ nebeneinander.

[38] Das Folgende nach Günther van Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten, Wuppertal 1999, 71-86.

[39] Mark Ellingsen, The Cutting Edge. How Churches Speak on Social Issues, Geneva/Grand Rapids 1993, 142f.

 

* veröffentlichet in:

Walter Schöpsdau, Angenommenes Leben. Beiträge zu Ethik, Philosophie und Ökumene

hg. von Martin Schuck (Bensheimer Hefte 104), Göttingen 2005, 80-98.

 

Dr. Walter Schöpsdau
Chrodegangstr. 10
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© Walter Schöpsdau

 

 

 

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